Tourismus zwischen den Gezeiten

Vor der Küste Niedersachsens liegt Deutschland zweitgrößter Nationalpark: das Wattenmeer. Es ist gleichzeitig UNESCO-Biosphärenreservat und Teil des UNESCO-Weltnaturerbes. Das Gebiet ist touristisch ein Schwergewicht. Und eine Herausforderung für die beteiligten Akteure.

Wenn das Wort Nationalpark fällt, kommen den meisten Menschen Bilder von unberührter Natur in den
Sinn, von Landschaften, die sich ungestört und ohne den Eingriff des Menschen entwickeln dürfen. Teilweise ganz anders aber sieht die Realität im UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer aus, das sich entlang der Nordseeküste von den Niederlanden über Deutschland bis nach Dänemark auf einer Fläche von 11.500 Quadratkilometern erstreckt – und das als internationales Schutzgebiet in derselben Liga spielt wie der Yellowstone-Nationalpark oder das Great Barrier Reef.

„Die Balance zu halten zwischen den verschiedenen Interessen und Akteuren ist seit Jahrzehnten eine echte Herausforderung“, weiß Meike Zumbrock, Geschäftsführerin der TourismusMarketing Niedersachsen GmbH, die besonders den 1986 als Schutzgebiet ausgezeichneten Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer im Blick hat. Knapp eine Million Menschen leben hinter den Deichen. Und das Meer davor ist – eine Wirtschaftszone.

Fischer fahren mit den Gezeiten aufs Meer hinaus und verdienen ihren Lebensunterhalt, es gibt regen Fähr- und Güterverkehr und der Tourismus ist an der niedersächsischen Küste und auf den dazugehörigen Inseln der Hauptwirtschaftsfaktor. „Jährlich kommen mehr als 20 Millionen Übernachtungs- und Tagesgäste in die Region“, sagt Zumbrock. Die Ostfriesischen Inseln und die Nordseeküste sind dabei aus touristischer Sicht zur „Nordsee Niedersachsen“ zusammengefasst – und der Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer auf 3.450 Quadratkilometern der zweitgrößte deutsche Nationalpark
und Heimat von mehr als 10.000 verschiedenen Tier- und Pflanzenarten.

Zwischen den Jahren 2009 und 2023 wurde ein Zuwachs bei den Ankünften von knapp 40 Prozent verzeichnet, „bei den Übernachtungen waren es knapp 25 Prozent allein in der amtlichen Statistik“, so TMN-Chefin Zumbrock. Touristisch gesehen ist die „Nordsee Niedersachsen“ mit 13 Millionen Übernachtungen im vergangenen Jahr die wichtigste Region im Vergleich zu den anderen Destinationen Niedersachsens. Marktanteil bei den Ankünften: rund 20 Prozent. Bei den Übernachtungen sogar mehr als 30 Prozent.

„Bei diesen Gästezahlen ist es ein gemeinsames Anliegen von Nationalparkverwaltung und Tourismus, Besuchern die Besonderheit und Schönheit, aber auch die Verletzlichkeit des Wattenmeeres zu vermitteln und um Verständnis für dessen Schutz zu werben“, sagt Peter Südbeck, Leiter der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer. Mit der Anerkennung des Wattenmeeres als UNESCO-Weltnaturerbe im Jahr 2009 wurde dazu auch die Zusammenarbeit mit den anderen Anrainern sowie den touristischen Akteuren weiter intensiviert.

Drei Wattenmeer-Besucherzentren, vierzehn Nationalpark-Häuser und eine Nationalpark-Erlebnisstation
stehen an der Küste und auf den Inseln für Besucher mittlerweile bereit. Die meisten dieser Info-Einrichtungen bieten das ganze Jahr über Ausstellungen, Führungen, Bildungsurlaube und Vorträge zu aktuellen Themen. Vor Ort stehen auch Ranger mit Rat und Hilfe zur Verfügung. Infotafeln, Lehrpfade und Schilder helfen Gästen bei der Orientierung und Natur-Erkundung.

Und das Nationalpark- und UNESCO-Label werden immer mehr zum Reisemotiv: „15,3 Prozent aller Gäste
waren im Jahr 2019 bereits Nationalparktouristen im engeren Sinn“, erklärt Meike Zumbrock. Heißt: Diese
Gruppe weiß nicht nur um den besonderen Schutz des Gebietes, sondern weist dem Schutzstatus auch eine große bis sehr große Rolle bei der Reiseentscheidung zu. Im Jahr 2007 lag der Anteil dieser Gruppe erst bei 10,9 Prozent. Standorte mit hoher Nationalparkaffinität sind seitens der Besucher insbesondere die Inseln Juist und Spiekeroog sowie Greetsiel.

Doch nicht alle freuen sich über den Gästezuwachs. Für den „Wattenrat“, ein Zusammenschluss verbandsunabhängiger Naturschützer, war die Verleihung des UNESCO-Welterbetitels allen voran von den Touristiken aus Marketinggründen vorangetrieben worden. Dabei sei das Gerede vom sanften Tourismus „nichts als Etikettenschwindel“, heißt es in einem Schreiben des Wattenrats. Und Peter Südbeck, der Leiter des Nationalparks, steht in der Dauerkritik. Er sei „zu tourismusfreundlich“. 2009 habe seine Behörde eine Fläche für Kitesurfer in der zweitstrengsten Schutzzone genehmigt. Als auf der Insel
Langeoog ein Golfplatz angelegt wurde, habe seine Behörde „nicht reagiert“. Die Liste der Vorwürfe seitens der Naturschutzverbände ist lang.

Dabei bestreitet auch Peter Südbeck nicht, dass es große Herausforderungen gibt: „Angesichts der großen Zahl von Besuchern besteht die Gefahr, dass Ruhe- und Schutzzonen wirkungslos werden.“ Die Zonierung des Nationalparks, ein klares Wegesystem, Befahrens-Regeln auf dem Wasser und sehr viel Informationen für die Besucher führen aber in seinen Augen „zu einem guten Miteinander der Gäste in und mit der Natur“.

Dass man zu einer so unterschiedlichen Bewertung kommen kann, mag auch an den verschiedenen, gleichzeitig geltenden Status liegen. Der Nationalpark ist schließlich auch Welterbe und seit 1992 UNESCOBiosphärenreservat. Während die Nationalpark-Idee den Menschen aber grundsätzlich erst einmal draußenhalten will, damit sich die Natur möglichst ungestört entwickeln kann, strebt die Biosphäre parallel den Erhalt und Schutz der durch den Menschen geprägten Kulturlandschaft an. „Ein Balanceakt, bei dem man zugegeben schon mal zwischen die Räder kommt“, so Südbeck.

Doch machen nicht nur er und sein Team sich Gedanken um das richtige Vorgehen. Gemeinsam mit dem NIT – Institut für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa hat der Nationalpark und der WWF im Jahr 2022 das „Wattenmeer-Tourismus-Radar“ entwickelt. Eine Methode, die Orte dabei unterstützt, rechtzeitig zu erkennen, wann und in welchen Bereichen Nutzungsgrenzen erreicht – oder überschritten – sind. Das Radar ist ein Instrument, mit dem entlang 30 festgelegter Kriterien überprüft werden kann, ob touristische Aktivitäten an einem Ort die Lebensraumqualität von Menschen, Tieren und Pflanzen negativ beeinträchtigen und die Werte gefährden, für die das Wattenmeer als Weltnaturerbe anerkannt worden ist. „Ist dies der Fall, werden Maßnahmen verabredet, um wieder zu einem gesunden Maß zurückzukehren“, sagt Anja Szczesinski, Beauftragte des WWF Deutschland.

Doch ist der ewige Schutz des Status-quo auch eine Illusion. Denn der Klimawandel verändert schon heute die Lebensbedingungen im Wattenmeer sowie an seinen Küsten. Die TMN hat deshalb im Jahr 2022 als erste Landesorganisation das Projekt „Klimawandel anpacken –Anpassungsstrategien für den Tourismus in Niedersachsen“ initiiert. Daraus hervorgegangen sind bis heute regionale Risikoanalysen, ein Anpassungskompass für Akteure vor Ort, ein „Klima-Check“ zur Überprüfung touristischer Infrastruktur und ein Leitfaden für Extremwetterereignisse. Eine Ideenbörse zeigt darüber hinaus anhand konkret ausgewählter Beispiele Maßnahmen, um eine Anpassung des Tourismus an die verschiedenen
Veränderungen durch den Klimawandel aktiv zu gestalten. „Ein Bündel an Workshops, Fortbildungsmaßnahmen und Konzeptideen wird die touristischen Akteure auch in Zukunft bei ihren Klimafolgen-Anpassungen unterstützen“, verspricht TMN-Geschäftsführerin Zumbrock. Nicht zuletzt bildet seit 2014 einegemeinsame Tourismusstrategie der drei Wattenmeerstaaten Deutschland,
Dänemark und Niederlande den Rahmen für eine nachhaltige Entwicklung des Tourismus.


Dieser Artikel ist im neuen TN-Deutschland Magazin erschienen. Das ganze Magazin zum Nachlesen gibt es HIER