25 Jahre visitBerlin: Ein Gespräch über die Rolle als Schaufenster der Nation, Freiheit als Markenkern und warum man es hinnehmen muss, dass sich Berlin gegen jede Art der touristischen Inszenierung sträubt.
Herr Kieker, wenn ich an Berlin denke, dann an viele Partys, Billigflieger, eine große Kreativszene und die ITB. Wie gut deckt sich das mit der Message, die sie von Berlin aussenden wollen?
In Teilen nicht so richtig. Die Partyhauptstadt ist ein Gerücht. Billigflieger sind die Zukunft. Was stimmt ist, dass Berlin viele kreative Menschen anzieht und dass wir ein Messestandort sind. Im aktuellen Kongress-Ranking sind wir international auf Platz vier gelandet. Annährend 30 Prozent unserer Gäste sind Messe- oder Kongressbesucher. Aber gegen den Ruf der Partyhauptstadt, der in den 90er Jahren begründet wurde, wehren wir uns auch nicht. Denn wir haben ja 300 Clubs, die viel mehr sind als Diskotheken. Das Nachtleben Berlins ist eine Kunstform. Und rund 14 Prozent der Gäste kommen auch deshalb.
25 Jahre visitBerlin, Sie selbst sind seit 2009 Geschäftsführer. Was waren in Ihrer Zeit – aber auch seit dem Beginn von visitBerlin die größten touristischen Veränderungen?
Was wir nie für möglich gehalten hätten ist, dass wir Rom bei den Übernachtungszahlen überholt haben. Wir sind nach London und Paris die Nummer drei in Europa. Darauf können wir stolz sein.
Wir haben versucht, die Stadt als Comeback-Story zu inszenieren, wobei man sagen muss: Berlin lässt sich nicht inszenieren, würde sich auch dagegen sträuben. Anders gesagt: Wir haben einfach versucht, unsere Stadt zu verstehen, zu begreifen, was ihren Reiz ausmacht – und dann mit diesen Stärken gearbeitet. Daraus entstand die Marke Berlin. Und der empirisch belegte Markenkern ist Freiheit.
Das macht die Stadt so interessant und damit erfolgreich?
Ja. Die Bilder von tanzenden Menschen auf einer Mauer, die einst Länder und Schicksale teilte, prägen das Image Berlins. Dazu kommt eine sehr liberale Politik, die persönliche Freiheit und Individualität fördert. Wenn Sie sich heute in Berlin als Zebra verkleidet in die U-Bahn setzen möchten, wird sie niemand komisch anschauen (lacht). Hier darf man Neues ausprobieren!
Wir sind eine alte Weltstadt, die wieder auferstanden ist. Das fasziniert die Menschen. Und wir sind in einer Art und Weise auferstanden, die uns von anderen Hauptstädten unterscheidet. Hier war und ist noch nicht jeder Quadratmeter dreimal verkauft und wurde nicht jeder Gedanke schon gedacht. Wir haben eine sehr starke Willkommenskultur für Menschen, die hier mitspielen wollen. Das gilt für Kunstschaffende ebenso wie für Gründer oder Studenten.
Woher kommen Ihre Gäste?
55 Prozent unserer Gäste kommen heute aus dem Inland. Aber 36 Prozent der Deutschen waren noch nie in Berlin. Da liegt also noch viel Potential. 45 Prozent kommen aus dem Ausland, ein Anteil, den wir aber unbedingt steigern wollen. Wenn die Flughafen-Infrastruktur erst einmal steht, dann passiert das auch. 40 Prozent aller Gäste können dem gehobenen Bildungsbürgertum zugerechnet werden. Die sind begeistert, dass man sein Theaterticket nicht wie in London Monate vorher reservieren muss. Und der Altersdurchschnitt unserer Besucher liegt bei 41 Jahren.
Warum sind Ihnen ausländische Reisende so wichtig?
Als Hauptstadt müssen wir uns mit London, Paris und Rom vergleichen. Dort reden wir über 80 Prozent internationales Publikum. Da wollen wir hin. Das heißt nicht, dass uns deutsche Gäste nicht genauso wichtig sind. Aber wir müssen noch internationaler werden. Denn Berlin hat als Hauptstadt eine Schaufensterfunktion. Wo einst eine verwundete Stadt lag, schlägt heute das politische Herz. Das ist die internationale Wahrnehmung. Zwar kommen die Menschen, um Berlin in all seinen Facetten zu spüren. Aber die Leute kommen auch, um zu schauen wie Deutschland tickt. Das ist das, was ich mit Comeback meine. Und Berlin hat die Rolle als Hauptstadt auch wieder wirklich angenommen. Das war nicht immer so.
Berlin hat im Vergleich zu anderen Städten aber ein paar echte Baustellen, die direkt oder indirekt mit dem Tourismus zu tun haben: die Diskussion um Airbnb, die Situation mit den Leifahrrädern, der BER und der ÖPNV. Wie bringen Sie sich als Organisation hier in die politischen Prozesse ein?
Als Public-Privat-Partnership haben wir das Ohr der Politik. Wir sitzen mit am Runden Tisch des Bürgermeisters mit den Verantwortlichen des Innen- und Wirtschaftssenats, des Flughafens, der Stadtreinigung usw. Das ist kein Schulterklopfen. Da wird natürlich diskutiert, ab man sich mit einer Verwaltungsanordnung zum Thema Sharing Economy einfach aus einem globalen Megatrend rausbeamen kann – oder nicht. Ich glaube, es gibt selten so einen engen Dialog zwischen Politik und Tourismus wie in Berlin. Dass der Tourismus mit 12,5 Milliarden Bruttowertschöpfung einer der wichtigsten Wirtschaftszweige ist, ist dazu allen bewusst.
visitBerlin war als Organisation zur Gründung 1993 bundesweit einzigartig. Auch als eigner Veranstalter waren sie früh dran. Welche Rolle spielt dieser privat organisierte Bereich für Ihre Arbeit – und wie schlägt sich das in Zahlen nieder?
Die Grundidee war schon zur Gründung von dem behördenhaften eines Fremdenverkehrsamtes wegzukommen. Eigenes unternehmerisches Verständnis war vom Start weg gefragt. Und wirtschaftlich sind wir als DMO sehr erfolgreich: Unsere WelcomeCard hat sich vergangenes Jahr zwei Millionen Mal verkauft. Unsere Tochtergesellschaft Bahnhit bietet zusammen mit der DB Reisepakete an, sich zehntausende Mal jährlich verkaufen. Von unserem Etat, der zwischen 22 und 24 Millionen Euro liegt, verdienen wir mindestens die Hälfte also vorher selbst.
Was sind derzeit die wichtigsten Themen, die Sie bearbeiten – und wie gehen sie diese an?
Aktuell bereiten wir natürlich die Eröffnung des BER vor. In einem gemeinsamen Projekt mit dem Flughafen werben wir in diesem Zusammenhang für mehr Interkont-Flüge nach Berlin. Auch das Einheitsfest gestalten wir gerade unter dem Motto „Nur mit euch“. Zur Feier rechnen wir mit mehr als einer Millionen Besucher. Dann engagieren wir uns bei Film- und Kino-Produktionen. Die Serie Babylon Berlin, die im Berlin der 20er Jahre spielt, ist da ein gutes Beispiel. Weil Teile sogar auf Netflix liefen, wurde das wilde Berlin auch international großartig in Szene gesetzt. Etwas wilder als Goslar sind wir ja hier schon (lacht). Für unsere künftige Vermarktung spielt außerdem dreimal das T eine wichtige Rolle: „Talents“, „Technology“ und „Tolerance“. Um diese Begriffe bauen wir unser ganzes Storytelling herum auf.