Martina Baumgärtner, Geschäftsführerin Niederrhein Tourismus GmbH

Ein Gespräch über den Niederrhein als Natur- und Radreiseregion ohne große Hotelketten, kommuniziertes Heimatgefühl als Marketinginstrument nach innen und außen, und die Notwendigkeit beim neuen Markenprozess nicht nur die touristischen Leistungsträger mitzunehmen.

 

 

Frau Baumgärtner, Sie haben mit dem Ruhrgebiet ein gigantisches Einzugsgebiet vor der Haustür: Wie positioniert sich der Niederrhein da?

Die fünf Millionen Einwohner des Ruhrgebiets sind für uns ein extrem wichtiger Zielmarkt, auf dem wir seit 13 Jahren für uns als Region und unsere Angebote werben. Für eine Organisation wie die unsere, mit eher kleinem Marketingbudget, ist es Segen so ein Einzugsgebiet vor der Haustür zu haben.

 

Werben Sie regional eigentlich mit den gleichen Themen wie bundesweit?

Ja. Natur und Naturerlebnis in Verbindung mit Radfahren, regionaler Kulinarik und neuerdings auch Wandern sind unsere Hauptthemen. Unser Verleihsystem NiederrheinRad hat zum Beispiel inzwischen 40 Stationen, meist direkt bei den Übernachtungsbetrieben. Dort können aber auch Tagesgäste Räder oder Pedelecs ausleihen. Das ist ein Qualitätsmerkmal, über das wir Kompetenz zeigen. Das in Verbindung mit dem neuen Knotenpunktsystem, also einer neuen flächendeckenden Art der Beschilderung auf Zahlenbasis, macht Touren sehr komfortabel.

 

Woher kommen Ihre Gäste – und wie lange bleiben Sie im Schnitt?

Da gibt es Unterschiede. Unsere fünftägigen Pauschalen werden zum Beispiel überwiegend von Gästen aus den Niederlanden gebucht. Für unsere Nachbarn sind wir also eine richtige Urlaubsregion. Für Deutsche dagegen sind wir noch eher ein Kurzreiseziel. Wobei in den Sommerferien auch längere Aufenthalte gebucht werden. Dass sich unsere Angebote also auch so positionieren lassen, ist schön zu sehen. 2016 hatten wir 2,2 Millionen Übernachtungsgäste. Dieses Jahr legen wir noch einmal rund sechs Prozent zu. 85 Prozent unserer Übernachtungsgäste kommen aus Deutschland. Zehn Prozent sind Niederländer. Der Rest kommt aus Belgien.

 

Aber die Masse sind immer noch Tagesgäste.

Natürlich. Die Nähe zu den Niederlanden führt an den Wochenenden dazu, dass in Brüggen, wo ich wohne, mehr Holländisch als Deutsch gesprochen wird (lacht). In Kleve ist das ähnlich. Aber auch aus dem Ruhrgebiet kommen sehr viele Tagesgäste.

 

Bitte ergänzen Sie für uns folgende Sätze:

Die Menschen am Niederrhein sind…

gesellig.

Der größte Vorteil der Region ist…

die abwechslungsreiche Landschaft und die Nähe zu den Niederlanden. 

Wenn Sie irgendetwas sofort ändern könnten, dann wäre es…

die Bürokratie bei den EU-Projekten.

 

Mit dem Projekt Local Emotion wollen Sie die Menschen der Region zu Botschaftern machen – wie läuft das Projekt an und was genau passiert da?

Bei dem Projekt geht es um das Gefühl von Heimat. Wir holen die Menschen bei ihrem Gefühl für die Region ab und lassen sie uns ihre Lieblingsplätze verraten. Das Profil der Region wird so nach innen und außen geschärft. Rund 300 Einträge sind in wenigen Wochen schon zusammengekommen. Das zeigt die hohe Identifikation der Menschen hier mit ihrer Heimat – und den Wunsch emotionale Erlebnisse und Orte auch mit anderen zu teilen. Dass das Thema so gut funktioniert, liegt glaube ich daran, weil es gerade genau in die Zeit passt.

 

Was gefällt Ihnen an dem Projekt am besten?

Dass die Einträge von einer ungeheuren Dynamik und Individualität zeugen. Unsere Kernthemen Natur und Naturerlebnis werden so unterschiedlich und aus so vielen persönlichen Perspektiven erzählt, dass echte Vielfalt entsteht. Das begeistert mich richtig.

 

Wie wollen Sie die vielen Blog-Einträge touristisch nutzbar machen?

Den Gast in diese Local Emotions zu integrieren folgt erst im zweiten Schritt. Aktuell sammeln wir noch. Dann wird es eine Workshop-Reihe geben, bei der sich Betriebe und Kommunen beteiligen können, um gemeinsam einen Roten Faden zu entwickeln, wie die Inhalte zu einer Botschaft in unserer Kommunikation werden können. Wenn Sie so wollen, ist das ein Stück weit auch der Start in unseren Markenprozess.

 

Erzählen Sie uns mehr über den anstehenden Markenprozess.

2018 beginnen wir gemeinsam mit den Gesellschaftern des Niederrhein Tourismus eine Standortmarke mit mehr Profilschärfe zu entwickeln. Alle, die irgendwie mit Niederrhein werben, müssen dabei an einen Tisch gebracht werden, also nicht nur die touristischen Akteure. Denn wir brauchen einen gemeinsamen Markentrichter über Unternehmen und Branchen hinweg. Die Kreise des gesamten geografischen Niederrheins schließe ich hier ausdrücklich mit ein, also auch jene, die aktuell nicht Gesellschafter von Niederrhein Tourismus sind.

 

Wer steht bei diesem Prozess als Berater an Ihrer Seite?

Das Zukunftsbüro Wien mit Andreas Reiter. Uns war wichtig mal wirklich jemand zu holen, der den Blick von außen auf die Region hat .

 

Die Gäste- und Übernachtungszahlen steigen am Niederrhein seit Jahren – was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Gründe dafür?

Wir haben über die Akquise von EU-Geldern in 13 Jahren mehr als 12 Millionen Euro Fördermittel in die Region geholt, davon 2,4 Millionen Euro Eigenmittel. Das hat zu einer immer besseren Wahrnehmung geführt. Dann haben wir hier unglaublich viel Individualität auf Seiten der Leistungsträger. Uniforme Hotelketten findet man bei uns nicht. Das und die daraus resultierende Vielfalt schätzen unsere Besucher, das hören wir immer wieder. Dazu kommt eine ehrliche Gastfreundlichkeit in den Betrieben, die dem Charakter der Menschen am Niederrhein entspricht. Und wo sich wirklich viel getan hat in den vergangenen zehn Jahren, ist bei der Infrastruktur und bei der Wartung und Pflege der Radwege.

 

Wo sehen Sie noch Potentiale?

Wir könnten die Kombinationen und Kontraste möglicher Stadt- und Landerlebnisse mehr herausarbeiten. Zum Beispiel die Frage, wie man den Einzelhandel in den großen Stadtkernen mit dem Einkaufserlebnis in den historischen Altstädten verbinden könnte. Das ist ein spannendes Thema. Und ich bin zuversichtlich, dass das gelingt. Denn ich spüre hier eine unglaubliche Aufbruchstimmung.

 

Wie definieren Sie Ihre Rolle als Tourismusorganisation – und wie könnte sie sich verändern?

Wir sehen uns als Kümmerer der Region. Früher waren wir rein auf Marketing ausgerichtet. Inzwischen haben wir dazu beratende und koordinierende Funktion. Jetzt gerade kommt das Thema Innovations-Coaching neu hinzu, wo wir einen festen Ansprechpartner installiert haben, um unsere Betriebe bei der Umsetzung ihrer Ideen zu unterstützen. Die Aufgaben werden also mehr, nicht weniger. Eine DMO ist deshalb auch in Zukunft nicht wegzudenken. Aber wir müssen schauen, wie und wo Arbeitsteilungen sinnvoll sind.