Ein Gespräch über die Herausforderungen für Destinationen, barrierefreies Reisen zu gestalten, Deutschlands erstes Reisemagazin für Menschen mit Behinderung und die Scham vieler Marketingverantwortlichen, das Thema in der Komunikation richtig anzugehen.
Frau Marmulla, Sie haben gerade die zweite Ausgabe des Magazins „Meine Reisewelt“ herausgegeben, Deutschlands erstes Magazin für barrierefreien Urlaub. Wie kam es zu diesem Projekt?
Schon die Erstausgabe des Magazins im März ist sehr gut angelaufen. Auch für das aktuelle Heft kommen fast täglich neue Bestellungen herein. Das zeigt, dass das Magazin eine Lücke schließt. Denn Magazine für Menschen mit Behinderungen gibt ja bereits verschiedene – aber eben kein Reisemagazin. Inhaltlich geht es um die Beschreibung von Reisezielen für die Leserschaft, nicht primär darum, etwas zu bewerben. Mit den Embrace Hotels, einem Verbund von Hoteliers, der viele Menschen mit Behinderungen beschäftigt, haben wir auch einen namhaften Partner mit an Bord. Anzeigen hingegen wurden schon von ganz verschiedenen Destinationen und Unternehmen geschalten und sie sind als solche klar gekennzeichnet. Wichtig war uns auch, das Magazin selbst barrierefrei zu gestalten. Dazu arbeiten wir mit Speech Code zusammen, einem Dienstleister, der Texte noch einmal anders visualisiert bzw. als Audioversion bereitstellt. Aktuell kann man .Meine Reisewelt. über das Internet bestellen oder über unsere Aktivitäten auf Messen wie der RehaCare oder CMT Stuttgart bekommen. Die dritte Ausgabe erscheint im Februar 2020.
10 Prozent der Menschen in Deutschland leben mit einer Behinderung, ein großer Markt. Warum gehen viele Akteure das Thema dennoch noch so zaghaft – oder gar nicht – an?
Der wohl wichtigste Grund ist, dass wir nicht in einer inklusiven Gesellschaft leben. Das Bewusstsein für diese Zielgruppen ist sehr klein, weil man im Alltag keine oder kaum Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderungen hat. Viele Akteure kennen diese Zielgruppe also nicht. Und dann gibt es wie immer Angst, überhaupt Investitionen zu tätigen. Wenn eine Destination zum Beispiel nie Rollstuhlfahrer zu Gast hatte, müsste sie ja erst investieren, um für diese Menschen und deren Angehörige interessant zu werden. Diesen Schritt scheuen viele.
Aber mir kommt es auch so vor, dass das Thema nach wie vor mit Scham besetzt ist. Kaum kommt das Thema auf, sind alle sofort bemüht, nicht von Behinderten zu reden, sondern die Vorteile auch für Familien mit kleinen Kindern und Alte in den Vordergrund zu rücken.
Ja, das stimmt. Aber die Destinationen stellen zurecht heraus, dass von den Investitionen noch andere Zielgruppen profitieren. Das hilft auch dabei, Partner leichter von Investitionen zu überzeugen. Und gerade Senioren sind eine sehr attraktive Zielgruppe. Und Barrierefreiheit hilft dabei, demografiefest zu werden.
Aber das Alter ist es doch genauso schambesetzt. Von Alten will man auch nicht reden. Stattdessen kommen im Marketing Wortschöpfungen wie „Best Ager“ und „Silver Surfer“ zum Einsatz. Wie spricht man Menschen mit Behinderungen und Senioren denn am besten an?
Für Menschen mit Behinderungen wählen die meisten Destinationen den Weg, eine Special-Interest-Broschüre aufzusetzen. Und dieser Weg ist prinzipiell richtig. Worauf es hier ankommt ist, dass man gutes Bildmaterial einsetzen. Bei den Texten braucht es eine Mischung zwischen Informationen über die Destination und Informationen zur Barrierefreiheit. Erfahrungsgemäß tuen sich viele Destinationen mit dem richtigen Wording für diese Zielgruppen schwer. Ich rate dann immer, sich für so ein Projekt jemanden dazu zu holen, der in der Thematik einen sicheren Sprachgebrauch pflegt. Und in jedem Fall sollten Senioren immer anders angesprochen werden als Menschen mit Behinderungen! Hier sollte Barrierefreiheit als Komfort verkauft werden. Man sollte auch nicht vergessen, dass Behinderung als eine altersuntypische Beeinträchtigung definiert ist. Was vielen auch nicht bewusst ist: Special-Interest-Broschüren werden nicht nur von Menschen mit Behinderungen, sondern auch von Angehörigen gelesen. Ein Teil der Reisen – sowohl für Menschen mit Behinderungen als auch für Senioren – wird von Angehörigen geplant und organisiert.
Was begegnet Ihnen bei ihrer Arbeit in Destinationen am häufigsten rund um das Thema, zum Beispiel Defizite, Verständnisprobleme, Fragen?
Wenn wir uns hier exemplarisch erst einmal das Thema der Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer ansehen, dann muss man zunächst zwischen Bestandsimmobilien und Neubauten unterscheiden. Im Bestand gibt es nach wie vor sehr viele Barrieren. Rollstuhlgerechte Zimmer existieren in den meisten Hotels nicht, es fehlen Rampen, breite Türen usw. Bei den neueren Bauten merkt man, dass das Thema zwar schon irgendwo berücksichtigt wurde, der Wille also da war, aber dass viele Architekten Barrierefreiheit nicht richtig umsetzen können. Oft merkt man das an Details, wie der Ausgestaltung von WCs. Auch in anderen Bereichen merken wir in der Beratung ein großes Know-how-Defizit. Über Förderprojekte nähern sich Akteure und Organisationen dem barrierefreien Tourismus. Und das ist dringend notwendig, denn während für Menschen mit Gehbehinderungen schon manches passiert ist, fallen Zielgruppen wie Blinde und sehbehinderte Menschen – außer vielleicht im musealen Bereich – noch komplett hinten runter.
Sie sind für 2020 im Organisationsteam des „9. Tags des Barrierefreien Tourismus“ der DZT auf der ITB. Welche Themen wollen Sie setzen – und wie wird das Format überhaupt angenommen?
Das Format wird sehr gut angenommen, in den letzten Jahren waren mindestens immer 250 Teilnehmer dabei. Vormittags sprechen politische Akteure, gefolgt von einer Podiumsdiskussion und am Nachmittag Präsentationen zu ausgewählten Themen.
Mit „Reisen für Alle“ gibt es ein bundesweit gültiges Kennzeichnungssystem im barrierefreien Tourismus. Gibt es noch weitere Initiativen dieser Art – und falls nein, warum nicht?
Dass es in Deutschland quasi nur dieses eine Label gibt, sehe ich als Chance für eine glaubwürdige Kommunikation nach außen und innen. Und dass es bald noch andere Labels dieser Art geben könnte, sehe ich nicht, da es sehr aufwändig ist ein solches Label zu schaffen. Die Kriterien wurden im Auftrag des Wirtschaftsministerium vom DSFT in Zusammenarbeit mit den Behindertenverbänden erarbeitet. Hier herrscht also ein breiter Konsens – von den Piktogrammen über die Qualitätskriterien bis hin zur Arbeitsweise der Prüfstelle. Und auch die Datenbank ist ein komplexes Konstrukt. Ein Konkurrenzkabel lässt sich also nicht schnell auf die Beine stellen – und das ist gut so. Rund 2.500 Betriebe und Organisationen sind bislang bundesweit zertifiziert worden. Im Vergleich zu der Gesamtmenge an touristischen Betrieben ist das eine kleine Anzahl – das Thema müsste also durchaus noch mehr Fahrt aufnehmen, damit wir vorankommen. Zumal die Zertifizierung für die Betriebe nicht mit hohen Kosten verbunden ist. Durch Förderprogramm ist die Kosten in manchen Bundesländern bei weniger als 200 Euro.
Was für Aspekte sind Ihnen beim Thema Barrierefreiheit besonders wichtig?
Ich denke es wäre noch einmal wichtig, eine größere Studie zum Thema barrierefreies Reisen aufzusetzen. Vor mehr als zehn Jahren hatte das BMWi eine solche finanziert, aber seither haben sich viele Dinge verändert – es sind neue Akteure hinzugekommen, einige Destinationen haben Vorschritte gemacht und auch unsere Gesellschaft ist im Wandel. Ansonsten möchte ich hier alle Akteure und Destinationen ermutigen, mehr Barrierefreiheit umzusetzen und Marketingmaßnahmen einzuleiten – wie bereits besprochen machen Menschen mit Behinderungen immerhin 10 % der Bevölkerung aus. Letzter Hinweis: ohne Marketing zum Thema barrierefreies Reisen können Destinationen kaum erwarten, dass mehr Menschen mit Behinderungen ihre Destination besuchen.