Die Destinationen an Nord- und Ostsee sind auf dem Weg zum Ganzjahresziel. Den Wunsch gibt es schon eine Weile. Doch wie sieht die Realität aus? Und wie viele Angebote gibt es überhaupt für die Winterfrische an der deutschen Küste? Eine Bestandsaufnahme.
Von Andreas Steidel
Der Wind weht um die Nase. Regen peitscht über die Dünen. Dick eingepackt in einem Anorak atmen die wenigen Touristen die raue Seeluft ein. Sie sind genau deswegen hergekommen, wegen der Ruhe und dem kalten Klima, der grandiosen Natur, die in den Wintermonaten ihren ganz eigenen Reiz entfaltet.
Am Ende des Tages wartet eine gemütliche Teestube auf sie. Ein kleines Restaurant oder eine Fischräucherei, irgendetwas, wo man einkehren und es sich gut gehen lassen kann. Eine schöne Vorstellung, die zuweilen jedoch an der Realität scheitert: Denn viele Läden, Gastronomiebetriebe, Museen oder Badeparks an der deutschen Küste schließen im Winter. Nicht nur ein paar Wochen, sondern monatelang. Dann ist die Enttäuschung groß und der Eindruck entstanden, dass man vielleicht doch besser in einer anderen Jahreszeit reisen sollte. Tatsächlich steht und fällt der Tourismus in der Nebensaison mit dem Vorhandensein passender IndoorAngebote. Je kürzer der Tag ist, desto mehr Zeit verbringen die Menschen in ihrer Unterkunft, in Restaurants oder beim Shopping. Hat dann zu wenig auf, ist der Reiz der ruhigen Jahreszeit bald verflogen. „Eine Ferienwohnung mit selbstgekochten Spaghetti reicht halt nicht“, sagt der Tourismusforscher Martin Lohmann (N.I.T), der unter anderem die FUR-Reiseanalyse verantwortet.
Was Lohmann jedoch beobachtet: „Es hat große Fortschritte gegeben an Nord- und Ostsee, Nachfrage und Angebote in der Nebensaison wachsen seit 15 Jahren stetig.“ Zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern: Dort war der Ostsee-Tourismus nach der Wende noch stark vom Reiseverhalten in der DDR geprägt. Im Sommer kamen alle, im Winter fast keiner. Auf etwa 90 zu 10 schätzt Tobias Woitendorf, Stellvertretender Geschäftsführer des Tourismusverbandes Mecklenburg-Vorpommern, das damalige Verhältnis. „Das mussten wir erst einmal ändern, eine Infrastruktur und ein Bewusstsein schaffen“, sagt der Touristiker. Zu dieser Infrastruktur gehören Hotels, die an einem Ganzjahresbetrieb interessiert sind. Die am besten auch einen Wellnessbereich und ein eigenes Restaurant haben. Damit sind schon einmal drei Grundbedürfnisse eines Reisenden abgedeckt: übernachten, essen und wohlfühlen. Da ist es schon nicht mehr ganz so schlimm, wenn drumherum das ein oder andere zu hat. Für den Winter haben Woitendorf und Kollegen auch eine weitere Gästegruppe entdeckt: die Einheimischen. Sie werden in der kalten Jahreszeit gezielt umworben, mit einer Kampagne, die den Titel „Kurzurlaub zum kleinen Preis“ trägt. Dann fährt das Inland an die Küste zusammen mit anderen Gästen, die nun ebenfalls nicht mehr von ganz so weit herkommen. Im Winter sinkt der Radius genauso wie die Aufenthaltsdauer, ersetzt das verlängerte Wochenende den Badeurlaub im Sommer, der noch immer im Wochenrhythmus gebucht wird.
Haben zu wenig Betriebe und Geschäfte auf, ist
der Reiz der ruhigen Jahreszeit bald vorbei
Zwischenzeitlich liegt der Nebensaisonanteil in MecklenburgVorpommern bei etwa einem Viertel. So wie das Bundesland im Nordosten haben sich sämtliche Destinationen an Nord- und Ostsee die Stärkung der Nebensaison auf ihre Fahnen geschrieben. „Es ist die einzige Möglichkeit zu wachsen“, sagt Nadine Bungenstock, Sprecherin der TourismusMarketing Niedersachen GmbH. An der niedersächsischen Nordseeküste brummt es in den Monaten Juli und August, während von November bis Februar noch wenig los ist. Allein rund ein Drittel der Übernachtungen an der Festlandküste und auf den Ostfriesischen Inseln entfallen auf die Monate Juli und August.
Mit rund 2,3 Millionen ist allein der Juli deutlich stärker als sämtliche vier Wintermonate zusammen. „Das zu ändern ist nicht einfach“, sagt Armin Kanning, Geschäftsführer von Wangerland Tourismus und Aufsichtsratsvorsitzender der Nordsee GmbH, die die Küstengemeinden auf dem niedersächsischen Festland vertritt. So redet er auch lieber von einer „Saisonspreizung“ als von einem Ganzjahrestourismus. Tatsächlich können sich die Zahlen im Mai, Juni, September und Oktober zwischenzeitlich auch sehen lassen, doch das Loch dazwischen bleibt. „Es ist sehr schwierig, mit allen Leistungsträgern eine Absprache zu finden“, stellt Kanning fest. Immer seltener sind Betriebe inhabergeführt und die Entscheider dadurch schlicht nicht greifbar, lautet seine Erfahrung. Überdies sei das Personalproblem in den Wintermonaten nicht zu unterschätzen: „Wo sollen wir in Zeiten der Vollbeschäftigung die Leute herkriegen?“ Zumal die Politik durch rigide Arbeitszeitregelungen alles noch verschärft habe.
Tatsächlich kommt der Mitarbeiterfrage beim Ganzjahrestourismus eine entscheidende Bedeutung zu. Mit zum Teil durchaus konträren Einschätzungen: So ist für Göran Sell, Geschäftsführer der Ostfriesischen Inseln GmbH, die Verknappung des Fachpersonals einer der wichtigsten Gründe für eine gezielte Entsaisonalisierung: „Wenn wir qualifizierte Leute wollen, müssen wir ihnen eine Perspektive für das ganze Jahr bieten.“ Am Weitesten ist die Insel Norderney. Dort herrscht reger Ganzjahresbetrieb, auch weil es genug Hotels gibt und eine öffentliche wie private Infrastruktur, die mehr oder weniger ganzjährig am Start ist. Für Sell ein Zukunftsmodell, nicht zuletzt, da so auch genug Geld für bitter notwendige Investitionen erwirtschaftet werden könne: „Wer nicht mithalten kann, fällt langfristig runter.“ Der Touristiker will gezielt Betriebe stärken, die ihr Geschäftsmodell ändern, die sich mit einer entsprechenden Zahl von Mitarbeitern auf einen Ganzjahresbetrieb einstellen, statt mit einer möglichst knappen Belegschaft in der Hochsaison durchzuarbeiten, um danach die Schotten dicht zu machen. Sells Heimatinsel Borkum beschreitet langsam diesen Weg und profitiert davon, dass die Bahn nun beide Fähranleger in Emden und Eemshaven direkt bedient. Vor allem im Winter, „wenn keiner Lust hat, bei Schnee und Eis Hunderte von Kilometern mit dem Auto zu fahren“, eine entscheidende Verbesserung.
Je kürzer der Aufenthalt, desto wichtiger
ist die reibungslose An- und Abreise
Mit der Bahn kämpft auch sein Kollege Moritz Luft, Geschäftsführer der Sylt Marketing GmbH. Der Hindenburg-Damm ist Segen und Fluch zugleich, das Nadelöhr der Zugverbindung seit Jahren Gegenstand von Beschwerden aufgrund von Verspätungen und mangelnder Wagenqualität. Ein Problem, das vor allem den Tourismus in der Nebensaison tangiert. Denn je kürzer der Aufenthalt, desto wichtiger ist die reibungslose An- und Abreise, zumal im Winter ja auch fast alle Flugverbindungen ruhen. Dennoch kann sich Moritz Luft nicht über die Entwicklung beklagen: Stetig sind die Anteile der Nebensaison in den vergangenen Jahren gestiegen. Kam 2005 etwa ein Viertel der Gäste in den Monaten Oktober bis März, sind es inzwischen mehr als 30 Prozent. Wie überall sind Weihnachten und Silvester dabei bestens gebucht. Doch nun kommen weitere Spitzenzeiten hinzu: Das Biike-Brennen im Februar etwa oder die Karnevalszeit, wenn Faschingsmuffel gerne mal aus den Hochburgen fliehen. „Wir bauen diese Angebote peu à peu aus“, sagt Moritz Luft und meint damit keineswegs nur attraktive Hotelpauschalen, sondern auch eine Vielzahl kultureller Highlights: So gibt es Literaturtage im November und ein Gourmetfestival im Januar.
Das funktioniert auch an anderen Orten gut: Seit kurzem lockt beispielsweise ein lässiger WinterStrandclub in Timmendorfer Strand junge Leute an, die man zuvor kaum in dieser Region Urlaub machen sah. Auf Amrum wiederum werben sie mit ganzjährigen Wattwanderungen. Die Schaffung kleiner kreativer Angebote ist auch für Frank Ketter, Geschäftsführer der Nordsee Tourismus Service GmbH in Schleswig-Holstein, ein Schlüssel zum Erfolg. „Wir brauchen keine Mega-Events im Winter, sondern interessante Nischenprodukte“, sagt er. Und die müsse man dann kommunizieren. Ketters Organisation tut das jetzt schon, indem sie den Gästen per Broschüre die „Winterfrische“ schmackhaft macht. Der Touristiker glaubt fest an das Potenzial der Nebensaison. So haben Untersuchungen ergeben, dass in der Gästepräferenz Natur und Erholung noch vor dem Stranderlebnis liegen. Tendenz steigend!
Die Nachfrage ist also da, man muss sie nur mit dem Angebot zusammenbringen. Dass das im Winter geringer ausfällt als im Sommer, ist an sich nicht weiter tragisch. Es darf nur nicht auf null sinken oder so dünn sein, dass man als Urlauber glaubt, in einer touristischen Geisterstadt gelandet zu sein. Umso wichtiger ist es, die vorhandenen Angebote zu koordinieren und zu kommunizieren. „Eine Aufgabe der Touristiker und der DMO“, wie Frank Ketter findet. Am besten, man teile dem Gast schon online oder in einer Broschüre genau mit, was wann wo genau geöffnet hat. Insgesamt tun sich die starken Destinationen leichter als Ganzahresziel. Auf Sylt ist irgendwie immer was los, auf Rügen an der Ostsee ebenso.
So hat das Seebad Binz eine ganzjährig gültige Kurkarte ohne Preisschwankungen, weil dort auch im Winter das Angebot in etwa auf gleichem Niveau ist. „Wir entwickeln uns nicht zum Ganzjahresziel, wir sind es eigentlich schon“, sagt Mana Peter, Geschäftsführerin der Tourismuszentrale Rügen. Saisonschwankungen gibt es trotzdem, eine völlige Wetterunabhängigkeit ist auch nach Einschätzung von Tobias Woitendorf im Tourismus letztlich illusorisch: „30 Prozent bis ein Drittel“ hält er deshalb für eine realistische Zielsetzung, was den Anteil des Winterhalbjahres am touristischen Gesamtaufkommen angeht. Dass das regional durchaus unterschiedlich ausfallen kann, ist nicht weiter schlimm, „im Gegenteil“, meint etwa Tourismusforscher Martin Lohmann. Er plädiert sogar dafür, in der Nebensaison auf Schwerpunktziele zu setzen: „Lieber an ausgewählten Orten richtig etwas bieten – als überall nur ein bisschen.“