Ein Gespräch über Konfliktlinien und die richtige Mischung aus touristischer Attraktivität und den Lebensbedingungen der Einheimischen.
Herr Woitendorf, die Corona-Krise hat ein Thema ans Tageslicht gespült, das man in einem Reiseland wie Mecklenburg-Vorpommern nicht für möglich gehalten hätte: fehlende Tourismusakzeptanz. Von Ferienhausbesitzern wurden Autos zerkratzt, Nachbarn schauten mit Argusaugen, dass sich ja niemand von außerhalb in seinem eigenen Haus aufhält. Wie bewerten Sie das?
Persönlich lehne ich jedes anmaßende und bedrängende Verhalten strikt ab. Es mangelt in Mecklenburg-Vorpommern nicht generell an Akzeptanz, die allermeisten Menschen wissen sehr wohl um die seit vielen Jahrzehnten hohe Relevanz des Tourismus für die Lebensqualität und verhalten sich gastfreundlich. Doch es ist nun leider einmal so: Eine solch schwere Krise fördert auch Extreme. Wenn Menschen unsicher sind, reagieren sie mitunter mit Abgrenzung. Dies war in vielen Teilen Deutschlands und Europas zu erleben. Bei uns gab es insbesondere zu Beginn der Pandemie sehr viel Unsicherheit, ob Tourismus eventuell Infektionstreiber ist oder ob die Krankenhauskapazitäten genügen würden.
Sie haben als Konsequenz aus den Entwicklungen und Vorkommnissen eine Tourismusakzeptanz-Kampagne gestartet. Was genau wurde hier umgesetzt und wo lagen die Schwerpunkte?
Akzeptanz und Balance sind ungemein wichtig in der Region mit der mit Abstand höchsten Tourismusintensität in Deutschland. Niemand will sich selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Mit „Wir sind Urlaubsland“ haben wir zum Neustart im Mai 2020 kurzfristig eine motivierende und aktivierende Sozialkampagne eingesetzt, die sich im Schwerpunkt an die Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns richtete und das Vertrauen in den Tourismus stärken beziehungsweise wiederherstellen sollte. Touristiker und alle anderen waren eingeladen, sich mit persönlichen Botschaften zu positionieren – gerne auch kritisch. Einige der Statements wurden über unterschiedlichste Medien und Methoden verbreitet. Am bekanntesten war dabei sicher das Mega-Banner an der Front des Hotel Neptuns in Rostock-Warnemünde. Wir haben uns also ganz bewusst für den Blick und die Arbeit nach innen entschieden und beispielsweise auf eine nachfrageorientierte Kampagne nach außen verzichtet.
Wo genau verlaufen, auch mit Blick auf diesen Sommer, die Konfliktlinien zwischen Einwohnern und Gästen – und wie können Lösungen aussehen?
Vordergründig geht es wie beschrieben um Unsicherheit im Hinblick auf Gesundheitsrisiken oder auch um Konflikte in Bezug auf einzuhaltende Regeln. Unterschwellig spielen aber auch Themen wie ein Zuviel an Gästen oder vermeintliche Privilegien der einen oder der anderen Gruppe hinein. Letztlich geht es um das richtige Maß und die optimale Mischung aus touristischer Attraktivität und den Lebensbedingungen der Einheimischen. In diesem Sommer geht es im Schwerpunkt darum, Vertrauen unter anderem durch Schutzstandards, unser Sicherheitssiegel (mv-gegen-corona.de), Besucherlenkung oder auch Testen zu vermitteln. Beim Testen kann die Branche auch Dienstleister für Urlauber und Einwohner sein. Wir werden klar und positiv kommunizieren – unter anderem mit kleinen und lustigen Erklärfilmen zum Tourismus. Darüber halte ich es für überlegenswert, den Mitarbeitern der Branche vor der Sommersaison Impfangebote zu machen, dies hätte eine positive und absichernde Wirkung in alle Richtungen.
Zieht die Politik in MV bei Ihren Ideen und Vorschlägen mit? 2020 hatte Ihre Landesregierung mit das schärfste Aufenthaltsrecht aller Bundesländer erlassen und Urlauber damit quasi offiziell zum Pandemietreiber erklärt. Wie ist das heute?
Momentan ist Lockdown, die Verordnung gilt bis 22. Mai. Kontrovers diskutiert wird das darin enthaltene Einreiseverbot für Menschen mit Zweitwohnsitz, von denen es aufgrund der hohen Aufenthaltsqualität prozentual sehr viele bei uns gibt. Ich sage es mal so: Dieses Verbot sollte im Sinne der Verhältnismäßigkeit als eines der ersten fallen. Ansonsten sehnen wir alle den Neustart herbei. In ganz Europa wird getrampelt. Der Druck kommt also auch von außen. In der Branche selbst sind wir mit nochmal geschärften Standards und dem x-ten Konzept gut vorbereitet auf die Rückkehr des Tourismus nach Mecklenburg-Vorpommern.
Ihr Verband hat es sich zum Ziel gesetzt, nicht nur Kampagnen für ein Tourismusbewusstsein zu fahren, sondern eine echte „TourismusKultur“ zu etablieren. Wie kann das gelingen und in welchem Zeitrahmen?
Mehr oder weniger ausgeprägte Tourismusakzeptanz ist kein Kind der Krise. Tourismusbewusstsein war schon davor als eines der fünf Schlüsselfelder der Tourismuskonzeption festgelegt worden. Corona hat dem Thema positiv ausgedrückt Flügel verliehen. Wir wollen es so lange in der Luft halten, bis wir mit Fug und Recht von einer geprägten Tourismuskultur sprechen können. Dies wird ein jahrelanger oder dauerhafter Flug – und sicher auch mit ordentlich Gegenwind. Aber wir stellen uns diesem Prozess mit Hilfe des Landes. Gerade ist uns die Stufe 2.0 für die kommenden zwei Jahre genehmigt worden, in der wir die Kampagne in eine dialogische und diskursive Binneninitiative überführen wollen. Zuhören, verstehen, gemeinsame Lösungen und Werte finden – auf diese Formel kann man es bringen. Das Ganze wird wissenschaftlich begleitet sowie von repräsentativen Befragungen untersetzt werden. Wir können unsere Erkenntnisse daher gern auch mit anderen teilen.
In welche Bereiche soll diese Kultur überall hineinstrahlen und wie kann hier auch echte Nachhaltigkeit entstehen?
Tourismuskultur ist ein aus der strategischen Neuausrichtung unseres Verbandes entwickelter Begriff, der die Empfindung eines positiven Tourismusklimas als typische Landeseigenschaft auf allen gesellschaftlichen Ebenen beschreibt. Wir meinen, dass Tourismuskultur ein hohes Tourismusbewusstsein sowie eine hohe Tourismusakzeptanz voraussetzt. Ein fairer, nachhaltiger und bürgerorientierter Tourismus soll noch stärker Teil der Identität werden und in ein Wir-Gefühl eingehen, aus dem ein wertorientiertes Verhalten strömt. So viel zur Theorie. In der Praxis heißt das, dass diejenigen, die in der Branche arbeiten, dies mit höherer Zufriedenheit durch bessere Arbeitsbedingungen, mehr Wertschätzung, Vereinbarkeit und Lebensqualität tun. Jene Menschen, Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche, die nicht direkt zum Tourismus gehören, sollen sich ebenfalls beteiligt fühlen und den Nutzen sehen, den es zweifelsohne für jeden Einzelnen gibt. Manchmal prägen die Belastungsfaktoren den Eindruck aber stärker als die Vorteile. Hier müssen wir ran.
Zur Person: Tobias Woitendorf steht seit November 2019 an der Spitze des Tourismusverbandes Mecklenburg-Vorpommern (TMV). Seit 2007 prägte er die Kommunikation des Landesverbandes als Marketing- sowie Kommunikationsleiter. Der 45-jährige ist gebürtiger Mecklenburger und studierte in Rostock, Berlin und in Bergen/Norwegen Literatur- und Kulturwissenschaften, Politikwissenschaft und Soziologie. Anschließend arbeitete er bei der Ostsee-Zeitung und als Pressereferent im Landesgesundheitsministerium. Woitendorf ist Präsident des Handballvereins HC Empor Rostock
(18.5.21)