Dr. Heike Döll-König, Geschäftsführerin Tourismus NRW e.V. | Prof. Dr. Harald Pechlaner, Lehrstuhl Tourismus und Leiter des Zentrums für Entrepreneurship Kath. Univ. Eichstätt-Ingolstadt

Ein Gespräch über die Rolle des Tourismus in gesellschaftlichen Transformationsprozessen, LMOs und DMOs als Bindeglied zwischen Megatrends und die Ergebnisse des Fachkongress‘ „Standort:Stadt:Destination – Auf dem Weg zu einem Ökosystem der Gastlichkeit

Der Fachkongress „Standort:Stadt:Destination – Auf dem Weg zu einem Ökosystem der Gastlichkeit“ beleuchtete umfassend und aus vielen Perspektiven die Themen Stadt- und Destinationsentwicklung. Wenn Sie die ganztägige Veranstaltung auf ein Fazit herunterbrechen müssten, wie könnte es lauten?

Dr. Döll-König: Ich denke, der Kongress hat gezeigt, dass Transformation auch im Tourismus etwas ganz Entscheidendes ist. Genau genommen sind wir schon mitten im Prozess. Der Tourismus und wir als Organisationen liegen genau an den Schnittstellen verschiedener Megatrends. Wir stoßen also einerseits Veränderungen aus uns selbst heraus an – aber wir müssen auch auf vieles reagieren. Die Zeiten, in denen sich Tourismusorganisationen aufs Marketing fokussiert haben, sind jedenfalls ein für allemal vorüber.

Prof. Pechlaner: Im Tourismus gab es über viele Jahre nur eine Richtung: aufwärts. Man hat deshalb lange nicht die Notwendigkeit gesehen, touristische Destinationsentwicklung und Standort-Entwicklung zusammenzudenken. Inzwischen macht diese Trennung auch überhaupt keinen Sinn mehr. Der Tourismus zeigt sich nun als perfektes Bindeglied für allerlei Fragen dieser Zeit: Von sozialer Mobilität über Nachhaltigkeit bis zu Wohnbau und Digitalisierung. In all diesen Bereich stehen Transformations-Prozesse an. Und der Tourismus hat die Kraft, ein Motor dieser Veränderungen zu sein. Zumindest könnte das der Anspruch sein!

 

Bitte beschreiben Sie diese Transformationsprozesse genauer– und wo verlaufen vielleicht auch Konfliktlinien?

Dr. Döll-König: Transformations-Prozesse verdichten sich derzeit besonders im Städtetourismus. Nehmen wir nur die Bereiche Leben und Arbeiten, die sich für viele Menschen immer mehr miteinander vermischen. Hier kommt es zu immer neuen Ausformungen, beispielsweise entstehen immer mehr Co-Working-Spaces an sehr interessanten Orten. Das sind Orte, die ihr ganzes Umfeld neugestalten, weil sie mehr sind als Büroflächen. Dort kommt man zusammen, lernt neue Leute im Café kennen, abends finden Veranstaltungen statt usw. Die Grenze zwischen Freizeit und Office verschwimmt für viele zusehends. Die Co-Working-Spaces haben wir deshalb auch mit in unsere touristische Vermarktung genommen. Solche Entwicklungen beleben unsere Städte, weil ihnen ein touristischer Spirit innewohnt. Gleiches gilt für Bibliotheken. Dort leiht man heute nicht mehr nur Bücher aus; das sind Orte der Begegnung geworden. Oder Museen: Sie sind mit ihren gastronomischen Angeboten und der Architektur begehrte Treffpunkte im öffentlichen Raum. Nicht zu vergessen, dass die Grenze zwischen Business- und Leisure-Tourismus immer stärker verschwimmt.

Prof. Pechlaner: Am Beispiel workation wird gut deutlich, wie sich die Bereiche Freizeit und Arbeit verändern. Gleiches passiert im Gesundheits-Sektor. Früher waren das alles getrennte Lebensbereiche. Jetzt, auch durch die Digitalisierung, kommt alles näher zusammen. Besonders junge Gründer suchen nach Orten für ihre Firmen, wo es diese Vermischungen gibt. Und Touristen wiederum suchen nach Städten, die einen kreativen Puls haben. Denn der Gast von heute will nicht unbedingt als Tourist wahrgenommen werden. Er ist ein Einheimischer auf Zeit, er wünscht Partizipation. Moderne Destinationsentwicklung muss daher als ein Ziel haben, aus Gästen neue Einwohner zu machen. Der Tourismus allein ist allerdings nicht imstande, Antworten auf diese Fragen zu geben. Zumal der Tourismus im Zuge der Coronakrise zunehmend ein Akzeptanzproblem bekommen hat. Aber der Tourismus ist ein Vehikel, um Lebensräume zu erklären, für eine höhere Lebensqualität zu sorgen und die Motivation von Menschen aufzuzeigen, warum sie sich für eine Region entscheiden.

 

Aber wie kann Tourismus ein Motor der Transformation sein, ein Vehikel, um Themen zu vermitteln, wenn er gleichzeitig – wie beim Thema Overtourism – das Problem erst verursacht?

Prof. Pechlaner: Overtourism ist ein Problem, bei dem die ersten Signale nicht richtig erkannt worden sind – und dann stand man wie in Venedig oder Amsterdam irgendwann vor einem riesengroßen Problem. Überall, wo es Overtourism-Problematiken gibt oder gab, besteht ein Systemfehler. Man generiert(e) das Wachstum nämlich ausschließlich aus dem Tourismus, ohne auf die Bedürfnisse der Menschen vor Ort zu schauen. In Amsterdam hat man diesen Fehler erkannt und konsequent gehandelt. Auch in Barcelona dreht man die Zentrierung auf das Stadtzentrum inzwischen zurück und regelt den Wohnungsmarkt neu, weg vom Überangebot an Airbnb-Appartements. Ich denke: Man darf Fehler machen! Wahrscheinlich lässt sich das auf dem Weg zu mehr Resilienz gar nicht immer vermeiden. Deshalb bleibe ich dabei, dass der Tourismus als wichtiges Bindeglied dieser Transformationen wirkt. Im Übrigen sind sich sowohl Eiheimische wie Gäste immer stärker selbst bewusst, dass sie diese Prozesse aktiv mitgestalten sollen.

Döll-König: Und am Ende wird man oft nicht einmal mehr erkennen, wer zum Beispiel auf einem gut ausgebauten Radwegenetz einer Stadt unterwegs ist. Ist das ein Einheimischer, der da mit dem Rad fährt, weil er zwischen Büro und Zuhause etwas für seine Gesundheit tut oder fährt dort gerade ein Tourist, der die City erkundet? Verschiedene, heute teils konkurrierende Anspruchsgruppen, müssen und werden von den kommenden Transformationen profitieren. Wichtig ist, dass Prozesse künftig integrativ angelegt sind und wir als Verantwortliche mitlernen. Zum Beispiel können wir aus der Nutzerperspektive lernen, wie sich Menschen mit dem Rad durch unsere Städte bewegen. Wenn wir, auch mit Hilfe digitaler Tools, das Denken von Prozessen vom Nutzer aus beginnen, werden wir auch zu einer besseren Balance in unseren Destinationen kommen.

 

Mehrfach ging es auch auf dem Kongress um die Verbindung von Urbanität und ländlichem Umland. Wie hat sich dieses Spannungsfeld auch durch die Corona-Zeit verändert und wo liegen die größten Herausforderungen, diese Verbindung zu gestalten?

Prof. Pechlaner: Die Übergangsräume zwischen diesen beiden Umgebungen, die soziale Mobilität dazwischen zu gestalten, ist eine besondere Herausforderung. Denn oftmals entsteht genau zwischen diesen fließenden Grenzen jener Freiraum, den zum Beispiel junge Unternehmen brauchen, um sich anzusiedeln. Hier ist der Raum für Kreativität und Entwicklung. In Stadtzentren ist es viel schwerer, etwas zu entwickeln. Von daher liegt auf den Übergangsräumen in meinen Augen ein besonderer Fokus – auch für kulturelle Diversität übriges.

Döll-König: Tourismusorganisationen können die Räume zwischen Stadt und Land übrigens wunderbar mit Produkten bespielen. Ich nehme noch einmal das Thema Fahrrad: Hier hat sich seit dem Trend zum E-Bike der Radius von Touren enorm vergrößert. Strecken führen heute ein Stück durch die Stadt, dann 20 Kilometer raus ins Grüne und wieder zurück. City und ländlicher Raum sind hier bereits wunderbar miteinander verzahnt worden. Und gerade bei den jüngeren Reisenden gibt es dieses Entweder-Oder sowieso immer weniger. Es gibt bei den digital-affinen Zielgruppen eine hohe Mobilität und Bereitschaft, zwischen verschiedenen Orten, Wohn- und Aufenthaltsformen zu changieren. Erst mit der Familiengründung ändert sich das wieder. Aber wir wollen ja gezielt jüngere, mobile Menschen ansprechen. Und hier sehe ich für weitere Produkte, die Stadt und Land miteinander vernetzen, viel Potential. Zum Beispiel wollen immer Menschen bewusster und nachhaltiger leben, sich gesund ernähren. Für die Themen regionale Küche und Kulinarik bieten sich hier in der Verzahnung daher ebenfalls viele Chancen. Natur und Stadt, Leisure und MICE: Wir müssen anfangen diese Dinge nicht mehr getrennt voneinander zu denken – sondern zusammen.

 

Was hätte das konkret für Auswirkungen auf die Arbeit von DMOs?

Prof. Pechlaner: Das berührt drei Ebene. Zunächst einmal macht es unter den eben beschriebenen Transformationsprozessen keinen Sinn, dass die Zuständigkeit der einen DMO an der Stadtgrenze endet – und das Kompetenzfeld der nächsten beginnt. Neben der räumlichen Kompetenz, die aufgebrochen werden muss, ist die organisatorisch-funktionale Trennung von Destinations- und Standortmanagement zu hinterfragen – bzw. aufzulösen. Und drittens muss entlang der Themen mehr zusammengeführt werden. Viel zu viel wird immer noch in einzelnen Schubladen gedacht, geplant und getan. Die Kulturabteilungen denken nur in der Kategorie Kultur. Die Wirtschaftsförderung nur an Wirtschaft. Die DMO nur an Tourismus. Vielleicht ist die Lösung, dass am Ende so etwas wie eine Lebensraum-Agentur entsteht. Die Zeiten jedenfalls, in denen man losgelöst von allem anderen ein Erlebnisprodukt nur für Gäste schafft, neigen sich dem Ende entgegen.

Döll-König: Tourismus- und Standortentwicklung haben bislang meistens den Ist-Zustand im Blick. Der Blick geht zu wenig voraus. Wenn wir stärker an die Zukunft denken würden, hätten wir die Bedürfnisse der jungen Generationen viel mehr im Blick als die der Stammgäste. Die sind selbstverständlich auch wichtig, aber die Erfahrungswirklichkeit junger Menschen muss stärker als bisher Eingang in unsere Arbeit finden. Vielleicht reden wir in der Spitze alle dieser Transformationsprozesse dann gar auch nicht mehr von Tourismus, sondern, wie Professor Pechlaner vorschlägt nur noch von einem „Ökosystem der Gastlichkeit“, an dem alle partizipieren.

(05.08.21)