Florian Bauhuber, Geschäftsführer Realizing Progress GmbH & Co. KG

Ein Rückblick auf 13 Jahre Tourismuscamp, das neue Format „Open Week“ und die Vision, dass touristische Destinationen ihre Aufgaben in Zukunft viel ganzheitlicher begreifen.

Herr Bauhuber, 15 Ausgaben Tourismuscamp; das Format blickt auf eine erfolgreiche Zeit zurück. Trotzdem wird es die Mutter aller Barcamps so nicht wieder geben. Warum nicht?

Barcamps zu organisieren ist und war nie unser Hauptgeschäft. Als Berater müssen wir uns aber immer wieder Freiräume schaffen, um uns selbst weiterzuentwickeln. Diese Zeit ist jetzt gekommen, auch wenn wir sehr dankbar auf die vielen Jahre und teils wegweisenden Sessions zurückblicken, die uns die Camps als damals progressives Format ermöglicht haben.

Wird es ein neues Format geben – und wie soll es aussehen?

Ja, wir haben da etwas im Kopf. In der „OpenWeek“ sollen verschiedene Trendthemen miteinander kombiniert werden. Das Format richtet sich einerseits an der Schnittstelle von Arbeit und Freizeit – kurz Workation – aus. Darüber hinaus wird uns in dieser Woche das Thema Lebensraumentwicklung beschäftigen. Die Grenzen des Tourismus weichen wir dabei bewusst auf, um auch örtliche Regionalentwickler, Wirtschaftsförderer, Kreative oder Mobilitätsanbieter in die Woche einbeziehen zu können. Wir wollen also nicht mehr nur aus der Tourismusperspektive auf die Herausforderungen der Zukunft in Destinationen blicken, sondern viel ganzheitlicher und breiter diskutieren. Als Kick-off-Location haben wir eine sehr weit entwickelte deutschsprachige Alpenregion gewinnen können, in deren Lebenswelt und die dahinterliegenden Prozesse die Teilnehmer eine Woche lang im nächsten Sommer eintauchen können. Das Konzept unterscheidet sich also deutlich vom bisherigen Barcamp: intensiver, kreativer und persönlicher.

Auch bei der Zielgruppe der Teilnehmer?

Ja, uns ist bewusst, dass sich nicht jeder eine Woche freinehmen kann bzw. so flexibel oder selbstbestimmt ist, dass er an der OpenWeek teilnehmen kann. Wir schließen aber niemand aus. Und kurzer Rückblick: Die Teilnahme an einem Barcamp, das kein inhaltlich vorgeplantes Programm hat, war und ist für viele auch nicht in jeder Organisation durchsetzbar. Die OpenWeek als Workation-Format wird da ein Stückweit mehr Menschen und Entscheider anziehen, die sehr mündig selbst über ihre Zeit entscheiden. Und jeder Teilnehmer gestaltet seine Workation letztlich für sich selbst. Wir haben auch nicht den Anspruch, dass die Premiere mit 150 Leuten stattfindet, wir peilen 50 Teilnehmer an. Das wäre eine wunderbare Dimension.

Es gibt also eine Art Co-Working-Space und rundherum freiwillige Formate wie Workshops?

Es wird in jedem Fall einen immer frei zugänglichen Ort geben, an dem jeder arbeiten kann, wie er möchte – und wo man sich trifft. Die unsererseits angebotenen Formate werden immer freiwillig sein. Ein Barcamp-Format wird es übrigens auch dort geben, vielleicht auch eine Fuck-up-Night oder einen Hackathon. Wir sind mitten in den Planungen. Genauso kann aber auch jeder selbst etwas anbieten, sich auch sehr spontan einbringen. Doch auch das Erleben der Destination und ihrer Freizeitangebote wird wie schon gesagt sehr wichtig! Wir werden nicht nur drinnen über Konzepte diskutieren und an Lösungen feilen. Denn nur, wer einen Lebensraum kennt, kann vor Ort Ideen an der Wirklichkeit ausrichten. Um diesen Praxisbezug wird es auf der Open Week also stark gehen.

Wenn Sie auf die letzten 13 Barcamp-Jahre zurückblicken, welche Themen wurden immer wieder diskutiert?

Eine Frage, die all die Jahre in vielen Facetten auftauchte, war die nach der bestmöglichen Kommunikation zwischen der DMO und ihren Leistungsträgern, also des Stakeholder-Managements. Auch welche Social Media-Plattformen gerade angesagt waren und wie man sie für sich nutzen kann, hat uns all die Jahre begleitet. Selbst das Open Data-Thema ist gar nicht so neu – nur liefen die Diskussion darüber vor Jahren unter Begrifflichkeiten wie Semantic Web ab. Zuletzt wurde aber immer deutlicher, dass es eine Vision braucht, die über die rein touristische Dimension hinausgeht. Nicht jeder Akteur einer Destination sieht die Herausforderungen aus der Touristik-Perspektive. Hier seitens der DMO einen Konsens mit anderen, vielen auch nicht touristischen Akteuren herzustellen, ist inzwischen von herausragender Bedeutung für die nachhaltige Entwicklung von Regionen und Angeboten. Die Entwicklung, die das Camp genommen hat, wie sich die Diskussionen und Themen verändert und weiterentwickelt haben, hat auch uns als Realizing Progress geformt – bzw. die Entwicklung war wechselseitig geprägt. Wir beraten entsprechend heute viel ganzheitlicher. Wir waren mal eine Agentur, die sich schwerpunktmäßig mit Social Media und dem „heißen Scheiß“ digitaler Tools da draußen beschäftigt hat. Heute geht es bei unserer Arbeit um Change-Prozesse, um echte Sinnsuche und -stiftung auf der Destinationsseite und entsprechende Zukunftsstrategien für Lebensräume. 

Bei welchen Themen kam die Branche – auch durch Impulse aus dem Tourismuscamp heraus – gut voran?

Ich würde hier drei Themenbereiche sehen, die sich aus den Sessions heraus immer weiterentwickeln haben. Zum einen wurde vielen die Bedeutung von Social Media für ihr Marketing immer bewusster. Hierfür haben wir immer wieder sensibilisiert und letztlich auch diejenigen mitnehmen können, die sich lange gegen Facebook, Instagram & Co. gesträubt haben bzw. diesen direkt digitalen Zugang zu ihren Gästen und die daraus entstehenden Effekte unterschätzt haben. Der zweite Themenblock, den wir getrieben haben, ist Open Data. Wir konnten hier viel Aufklärungsarbeit leisten, warum ein strukturiertes Datenmanagement so wichtig ist und aufzeigen, wohin die Reise gehen wird – nämlich, dass offene und strukturierte Daten die Grundlage für massentaugliche künftige Anwendungen der künstlichen Intelligenz sind. Das Thema ist aus der Diskussion jetzt in der Realität. Fast jede LMO hat inzwischen einen Data-Hub als digitale Datendrehscheibe für ihre Akteure in Betrieb. Und das Dritte, was sich gut entwickelt hat, ist das Strategiethema. Vor 15 Jahren hatten erst wenige Regionen eine klare Vision von dem, was sie und wen sie eigentlich wollten. Heute kennt beispielsweise jeder seine Zielgruppen, Sinus-Milieus sind Grundlage fast jeder Marketingmaßnahme.

Und Realizing Progress gestaltet weiter die Zukunft. In Ihrem mit dem TIC Thought Leader-Award ausgezeichneten Manifest zum Umbau der Tourismusindustrie steht der Satz: „Im Jahr 2025 weist der Tourismus als Zukunfts- und Lebensraumgestalter den Weg in eine offene und nachhaltige Welt“. Was genau heißt offen, was nachhaltig?

Mit Offenheit meinen wir, dass man stets eine offene Perspektive einnehmen sollte, um den Herausforderungen der Zukunft begegnen zu können. Mit offen meinen wir auch offene Systemarchitekturen, offene Daten und offen zu sein gegenüber anderen Branchen und angrenzenden Disziplinen. Offenheit ist aber auch eine Werthaltung, nicht immer an Bestehendem festhalten zu wollen, sondern Veränderungen wahrzunehmen und sie auch auf der Produkt- und Angebotsseite zuzulassen. Die Pandemie hat allerdings eindrücklich gezeigt, wie stark die Beharrungstendenzen im Tourismus sind. Da wurde mit sehr viel Geld von der Politik der Status-quo gestärkt, niemand – jedenfalls im DACH-Raum – musste sich bewegen oder sein Geschäftsmodell ernsthaft überdenken. Aber die Veränderungen werden kommen, wenn wir diese Welt nachhaltiger gestalten wollen. Und das müssen wir! Wichtig ist uns beim Thema Nachhaltigkeit, dass wir alle drei Säulen im Blick haben – die ökologische, ökonomische und soziale. Die Ökologische ist aufgrund des Klimawandels in aller Munde und immer mehr Regionen und Akteure fangen an, sich zu verändern. Aber der Tourismus kann noch viel lernen, wenn es darum geht, sich von der reinen Preisorientierung zu lösen und mit einer klaren Werthaltung am Markt zu agieren. Nur so schaffen wir es nicht zur Zigarette des 21. Jahrhunderts zu werden und auch als relevanter Gestalter von Lebensräumen wahrgenommen zu werden.

(04.11.21)