Joachim Unterberger, Chief Innovation Officer Saint Elmo’s Tourism

Ein Vorabgespräch über die Erwartungshaltung an das Zeitalter der künstlichen Intelligenz, KI-Agents, die sowohl mit Daten als auch Menschen interagieren, und warum diese neue Schlüsseltechnologie viel revolutionärer ist als seinerzeit die Erfindung der Dampfmaschine.

KI ist eine sogenannte „General Purpose Technology“, sprich eine allgemeine Schlüsseltechnologie, wie es die Dampfmaschine, die Elektrizität oder das Internet waren. Wenn wir auf die Auswirkungen vergangener Schlüsseltechnologien zurückblicken, ist die hohe Erwartungshaltung mehr als nur nachvollziehbar und gerechtfertigt. Was die KI jedoch von diesen Technologien unterscheidet, ist ihre Fähigkeit, Teil ihrer eigenen Weiterentwicklung zu sein. Diese Eigenschaft führt zu einer exponentiellen Entwicklung, sowohl in Bezug auf die Qualität als auch die Vielfalt ihrer Anwendungsmöglichkeiten. Theoretisch kann die KI alles, was wir uns vorstellen können. Somit ist die Frage nicht, wie hoch die Erwartungshaltung ist – sondern wie groß unser Vorstellungsvermögen. Und ob wir in der Lage sind, unsere Bedürfnisse und Wünsche entsprechend zu formulieren. KI ist der Weihnachtsmann oder die gute Fee, von der die meisten von uns schon als Kind geträumt haben.

Das Potenzial ist nahezu unbegrenzt und in vielerlei Hinsicht schwer einzugrenzen. Im Wesentlichen lassen sich die größten Potenziale in zwei Hauptkategorien unterteilen: Automatisierung und Personalisierung. Diese beiden Bereiche betreffen alle touristischen Stake- und Shareholder gleichermaßen und bieten sowohl auf operativer Ebene als auch in der Kundeninteraktion sowie im touristischen Erlebnis vor Ort eine Vielzahl an Möglichkeiten. Rückblickend waren die letzten 1,5 Jahre, in denen viel Hype um das Thema KI entstand, oft aber mehr Show als substanzielle Innovation. Das wahre Potenzial der generativen und multimodalen KI geht weit über das hinaus, was bisher wahrgenommen wird. Die eigentliche Stärke dieser Technologie zeigt sich erst dann, wenn sie so nahtlos in unseren Alltag integriert ist, dass wir sie nicht mehr als Technologie wahrnehmen. Ein wesentliches Potenzial liegt also in der Dialogfähigkeit der KI: Sie kann sowohl mit Menschen als auch mit Daten kommunizieren und dabei sinnstiftende Dialoge führen. Das verbessert die Qualität über die gesamte Customer Journey hinweg. Jeder Touchpoint wird so Teil eines fortlaufenden, personalisierten Dialogs, der das gesamte Reiseerlebnis intensiviert. Letztendlich geht es darum, touristische Ökosysteme zu schaffen, in denen Destinationen und ihre Leistungsträger gemeinsam ihren Gästen optimierte Erlebnisse anbieten können. Diese neuen Ökosysteme könnten die Branche grundlegend verändern.

Die vorhin erwähnten touristischen Ökosysteme müssen orchestriert und bedient werden. KI-Agents sind in der Lage, mit ihrer Umgebung zu interagieren, Daten zu sammeln und diese Daten zu verwenden, um selbstbestimmte Aufgaben auszuführen und vorgegebene Ziele zu erreichen. Ein großer Vorteil ist, dass KI-Agents keine einheitlich strukturierten Daten benötigen. Sie können Daten aus verschiedenen Quellen, ob historisch oder aktuell, normalisieren und verarbeiten. In einem föderal strukturierten Umfeld wie dem Tourismus, in dem Datenstandards oft variieren, ist dies ein absoluter Mehrwert. Der Nutzen und die Einsatzmöglichkeiten von KI-Agents sind mannigfaltig, da sie in der Lage sind, beinahe jegliche bisher menschlich ausgeführte informelle Tätigkeit selbstständig zu erledigen. Das mag dystopisch und vielleicht sogar beängstigend klingen, umgekehrt ist es allerdings eine Arbeitserleichterung, die Zeit schafft, um sich der Weiterentwicklung des eigentlichen und eigenen Produkts bzw. Erlebnisses anzunehmen.

Wir sind bei weitem noch nicht am Ende des Leistungsvermögens, müssen uns aber vor Augen halten, dass wir Teil der Entwicklung sind und es selbst in Händen halten, mit welcher Geschwindigkeit wir die Entwicklung und Verbreitung von KI im Tourismus vorantreiben. Die Entwicklung der Leistungsfähigkeit von KI verläuft exponentiell. Darf man OpenAI glauben, so verdoppelt sich die Leistungsfähigkeit ca. alle 3,4 Monate. Allerdings wird nicht genannt, wie die genauen Steigerungsraten in den spezifischen Systemen sind. Persönlich nehme ich keine Verlangsamung wahr – OpenAI, Google, Meta und X verbessern und aktualisieren laufend ihre Large Language Models (LLMs). Woran es noch fehlt, sind spezifische Use Cases und Business Models im touristischen Kontext, worauf ich wieder auf die Erwartungshaltung zurückkomme. Die Wahrnehmung einer sich gefühlt verlangsamenden Entwicklung spiegelt eher die teils noch vorherrschende Ratlosigkeit bzw. allgemeine Orientierungslosigkeit wider. Aber es wird am Ende nicht das eine Tool oder die eine One-for-all-Lösung geben. KI kann in allen Teilbereichen des Tourismus eingesetzt werden und dazu beitragen, die Dinge besser zu machen oder zu erledigen, als sie es vorher je wurden.

KI bringt tiefgreifende Veränderungen sowohl in die Arbeitswelt als auch in die Kundenerfahrungen. In der Arbeitswelt automatisiert KI Routinetätigkeiten, was Mitarbeiter von mühsamen Aufgaben entlastet und ihnen mehr Raum für kreative und zwischenmenschliche Tätigkeiten gibt. Diese Entwicklung bietet eine Vielzahl an Chancen, stellt Unternehmen jedoch auch vor große Herausforderungen. Um die Vorteile der KI voll ausschöpfen zu können, müssen touristische Leistungsträger in die Schulung ihrer Leute investieren und deren digitale Kompetenzen stärken. Dies erfordert ggf. eine Anpassung der Unternehmenskultur, um sicherzustellen, dass die Belegschaft bzw. das eigene Team mit den technologischen Entwicklungen Schritt hält. Aus der Perspektive der Kunden ermöglicht KI eine verbesserte Personalisierung – Stichwort „Segment of one“ – und Effizienz von Dienstleistungen. Unternehmen können die Bedürfnisse und Präferenzen der Kunden besser verstehen und darauf reagieren. Diese fortschreitende Entwicklung der KI trägt dazu bei, das Kundenerlebnis zu verbessern, indem Prozesse vereinfacht werden und die Convenience erhöht wird. Allerdings gibt es auch Grenzen, wie viel Automatisierung Kunden akzeptieren. Manche Kunden stehen Technologien, beispielsweise der Gesichtserkennung oder vollautomatisierten Abläufen, sehr skeptisch gegenüber. Daher ist es entscheidend, dass Unternehmen den Einsatz von KI transparent kommunizieren und das Vertrauen der Kunden im Umgang mit ihren persönlichen Daten gewinnen. Nur durch diese Transparenz und das richtige Maß an Automatisierung kann KI ihre Potenziale im Tourismus voll entfalten, ohne das Kundenerlebnis zu beeinträchtigen.


04.09.2024