Peter C. Kowalsky & Cornelius Obier Geschäftsführer PROJECT M GmbH

Ein Gespräch über ein neues Tourismusverständnis, andere Kennzahlen der Erfolgsmessung, verbindliche Beteiligungsstrukturen und die große Bedeutung der einheimischen Bevölkerung als Zielgruppe, Botschafter und Interakteur.

PROJECT M wirbt für eine Neu-Definition des bisherigen Tourismusverständnis. Warum ist es Zeit für eine mutige neue Betrachtung unserer Branche?

Obier: Die Ansprüche an den Tourismus und seine verantwortlichen Akteure haben sich in den vergangenen Jahren mit einer erheblichen Dynamik weiterentwickelt. Das Tourismusverständnis speist sich aber immer noch aus der sehr traditionellen Perspektive des einstigen Fremdenverkehrsbegriffs. Von daher ist es an der Zeit für ein Tourismusverständnis, das die Bevölkerung vor Ort endlich nicht mehr nur als eine Anspruchsgruppe, die sich möglichst positiv zum Tourismus stellen soll, begreift, sondern als eine echte Ziel- und Nutzergruppe. Die klassischen Kennzahlen in unserer Branche messen bislang nur, welche Gäste von außen kommen, obwohl nahezu das komplette touristische Angebot und die Infrastruktur auch von Einheimischen genutzt werden. Aus Berlin wissen wir beispielsweise, dass rund 27 Prozent der touristischen Wertschöpfung aus der Stadt selbst stammt. Doch während man Gäste von außerhalb vielerorts stark umwirbt und sich eine Menge Kreatives einfallen lässt, geht es mit Blick auf die heimische Bevölkerung meist nur um das Werben für mehr Tourismusakzeptanz. Die Ansprache der eigenen Bevölkerung als Besucher und Gäste erfolgt dann durch Konkurrenzdestinationen. Dabei wäre ein stärkeres Binden der endogenen Wertschöpfung vergleichsweise einfach.

Kowalsky: Die Perspektive auf den Tourismus als Gestalter von Qualität und Erlebnis für alle Nutzergruppen muss sich entsprechend verändern.  Die positiven Wirkungseffekte und vor allem die Kompetenzen der DMO gilt es auf regionaler und lokaler Ebene als festen Bestandteil einer integrierten Kommunalentwicklung zu nutzen. Dieser Weiterentwicklung folgend, müssen wir zwingend die heutigen DMO-Strukturen, die Aufgaben auch im Sinne eines effizienten Beteiligungsmanagements der Kommunen in den Blick nehmen. Es gilt, den Blick zu weiten in Richtung eines gut strukturierten Zusammenspiels mit der Regional-, Stadt-, und Landesentwicklung. Nahstellen zu Wirtschaftsförderung,  Stadtmarketing oder Citymanagement gilt es durch klare Aufgabenzuordnung, -teilung und auch -abgrenzung  zu definieren bis hin zu neuen Organisationseinheiten mit einer hohen touristischen Kompetenz.  Es geht also um deutlich mehr als nur das Schärfen der bisherigen Erfolgskennzahlen.  

Die eigene Bevölkerung als Zielgruppe zu begreifen: Was für konkrete Auswirkungen hätte das?

Obier: Es würde zum Beispiel die Themen der Tourismus-Finanzierung und -Akzeptanz in ein ganz neues Licht rücken. Bisher ist es doch so: Einheimische finanzieren durch ihre Steuern und Abgaben die freiwillige Leistung Tourismus maßgeblich mit. Doch obwohl dies so ist, behandelt man sie nur als eine Anspruchsgruppe, die all die schönen Dinge mitnutzen darf. Das Kuriose daran ist: Nicht wenige Einheimische haben in den Destinationen sogar eine Doppelrolle inne: Sie sind Nutzer der Infrastruktur als auch selbst Anbieter einer touristischen Leistung. Beispielsweise die Vermieter von Fewo-Objekten oder die Gastronomen. In der Bevölkerung würde durch ein neues Bewusstsein ein anderes, positives Tourismusverständnis entstehen, würde man alle Besucher von Einrichtungen gleich erfassen und werten. Das wäre der Weg zu einer „Visitor Economy“, oder wie sagen würden: einer Erlebnisökonomie. Ein Verständnis, das zum Beispiel in Wien, Zürich, Berlin und Salzburg beispielsweise bereits einzieht.

Mit welchen Kennzahlen könnte man den Erfolg einer solchen Erlebnisökonomie messen?

Obier: Diese Frage ist noch nicht endgültig und nicht einheitlich beantwortet. Aber wir versuchen derzeit gemeinsam mit der Branche Standards zu entwickeln. Was beispielsweise gebraucht wird, sind Kennzahlen, die messen, wie zufrieden die Einheimischen mit dem Freizeit- und Erlebnisangebot vor Ort sind. Und wie sie es nutzen. Weitere Kennzahlen müssten ergänzend zu den Tages- und Übernachtungsgästen die rein binnen-touristische Wertschöpfung abbilden. Als drittes wären Kennzahlen zu den drei Säulen der Nachhaltigkeit wichtig, um Entwicklungen in einer Region wirklich ganzheitlich abbilden zu können. Dies würde die soziale und auch die ökonomische Perspektive der Nachhaltigkeit im Tourismus erweitern.

Kowalsky: In die Nachhaltigkeit greift beispielsweise das Thema Tourismusakzeptanz hinein, wobei ich mich hier schon am eindimensionalen Messinstrument des Tourismusakzeptanz-Saldos störe. Ein Saldo impliziert schon, dass es eine positive und eine negative Seite gibt. Ergänzend wichtiger wäre es aber, die Erlebniszufriedenheit als Ganzes in allen Zielgruppen und bezogen auf verschieden Tourismusbereiche zu messen. Da steckt dann die Akzeptanz schon teilweise drin. Gleiches gilt für die Weiterempfehlungsquote. Auch dort wird Stand heute nur erfasst, was Gäste von außerhalb empfehlen. Dabei sind doch Einheimischen die allerbesten Botschafter ihrer Heimat. Auch neue Netzwerke gilt es mit zu bewerten. Wie engagiert sich z.B. die Tourismusbranche. Welchen Impact leisten neue Betriebskonzepte der Hotellerie als neue Frequenzbringer oder auch Ankerpunkte in der Quartiers- und Innenstadtentwicklung?  Auch Kooperationen wie von Airbnb, die jetzt zum Beispiel mit dem Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de. kooperieren. Das ist ein Beispiel auf dem Weg zu möglichen neuen, anderen Kennzahlen, die die Interaktion und das Engagement des Tourismus über Mitwirkungsquoten, Innovationsimpulse mit und für die Bevölkerung neu bewerten.

Der herkömmliche Blick auf Übernachtungszahlen, Tagesgäste und Gastronomieumsätze trennt einzelne Bereiche klar ab und ist gelernt. Würde die Erweiterung des Kennzahlen-Sets nicht alles sehr unübersichtlich machen?

Obier: Sagen wir es so: Die Wahrheit kommt dann auf den Tisch! Eine Wahrheit, die die Lebensrealität in den touristischen Destinationen mit allen abbildet, die dort Angebote nutzen. Wir müssen weg vom Mindset einer Fremdenverkehrsstatistik. Das ist seit mindestens 20 Jahren nicht mehr zeitgemäß.

Kowalsky: Mit Blick in die Zukunft wollen wir in Deutschland, wie auch in Österreich oder der Schweiz, mehr qualitatives Wachstum fördern. Die Fokussierung rein auf die Tagesgäste- oder Übernachtungszahlen, also die Quantität, bringt uns diesem Ziel nicht näher. Im Gegenteil: Sie führt beim alleinigen Fokus zu Entscheidungen, die oft eben nicht nachhaltig sind. Wir sind in manchen Regionen in den Saisonhochzeiten am Ende des Möglichen in Sachen Wachstum und Verträglichkeit.
Was mich hinsichtlich der Entwicklung neuer Kennzahlen positiv stimmt, ist der inzwischen vielerorts hohe Grad der Digitalisierung. Es werden von Buchungs- über Auslastungs- bis zu Bewegungsdaten so viele Dinge in den Destinationen erhoben, dass sich das zusammen mit den qualitativen Bewertungen der Nutzerinnen, über Social Media Reaktionen und Interaktionen und auch durch neue Kennziffern der Bevölkerungszufriedenheit /-belastung sehr gut zu neuen  KPI-Systemen zusammenführen ließe. Auch die Kennzahlen aus Branchen wie dem Einzelhandel oder Mobilitäts- und Auslastungsdaten der Verkehrsbetriebe fließen hier mit ein. Das ist aktuell ein sehr dynamisches Feld, das durch neue Formen der Datenvisualisierung, der KI gestützten Daten Erhebung und Interpretation noch massiv an Bedeutung gewinnen wird. Wir sind mittendrin.

Was würde ein neues Tourismusverständnis für die Rolle der DMO bedeuten?

Obier: Um es vorwegzunehmen: Der Wandel ist schon im Gange – aber er ist weder gut strukturiert noch zu Ende gedacht. Eine Vielzahl von Regionen führt also bereits Maßnahmen durch bzw. hat Projekte angeschoben, die in die Richtung einer Erlebnisökonomie gehen. Nur werden diese in unseren Augen unter falschen Begrifflichkeiten bearbeitet und nicht sinnvoll zusammengeführt. Das häufig gehörte Lebensraum-Management beispielweise stellt eine Überhöhung der Aufgaben, die eine DMO bewältigen könnte, dar. Auch die Gemeinwohl-Ökonomie wirkt oft verengend mit Blick auf eine eigentlich erforderliche ganzheitliche Sicht. Der wichtige doch ebenso bedeutsame ökonomische Aspekt der Nachhaltigkeit ist gegenüber sozialen und ökologischen Aspekten oft nachgelagert.

Kowalsky: Die Rolle der DMO wird sich auf Basis dieses neuen Bewusstseins noch stärker in Richtung von Managementaufgaben bewegen müssen, als Gestalter von Erlebnis- und Lebensqualität UND mit einem ganzheitlichen Marketingfokus auf alle Nutzerinnen. Weiter muss die DMO mit ihrer unbestritten hohen Tourismuskompetenz ihren Platz in der Kommunal, Regional- und Landesentwicklung neu bestimmen. Es wird also darum gehen, nicht Parallelstrukturen im Tourismus aufzubauen, sondern Strukturen zu optimieren, in denen die Tourismuskompetenz und das neue Tourismusverständnis auch ein großes Kommunikationsthema wird – und zwar nach innen wie nach außen.
Nach außen, weil immer noch sehr viele Menschen da draußen mit dem aktuellen Tourismusbegriff eine auf den Fremdenverkehr verengende Perspektive verbinden. Nach innen – und das ist eigentlich noch gewichtiger: Auch in den Ämtern und Behörden sowie bei der Politik wissen viele nicht genau, was Tourismus bedeutet. Aber das alles verwundert auch nicht. Wir haben den Begriff Tourismus eben viel zu lange falsch kommuniziert und die Dinge, die zusammengehören, managementseitig nicht zusammengeführt.


Was plant PROJECT M, um das Thema voranzutreiben?

Kowalsky: Für uns ist dieses neue Tourismusverständnis kein Modul, das wir hier und da mal anbieten, falls gewünscht. Es ist eine Grundüberzeugung und Teil unserer Philosophie von wertstiftender Tourismusberatung, das fest in unsere touristische Beratung zu implementieren. Wir denken, dass ohne diese Weiterentwicklung auf Dauer kein zukunftsfähiger Tourismus mehr in den Destinationen stattfinden und finanziert werden kann. In einem nächsten Schritt werden wir eine Studie anstoßen, um eine Grundlage zu liefern, die nötigen Stellschrauben in den Organisationen zum Einsatz zu bringen. Darüber hinaus werden wir die bereits existierenden, positiven Beispiele diesbezüglich stärker nach außen tragen, sei es nun Berlin, Kopenhagen, Salzburg, Wien, Zürich oder eine Metropole Ruhr. Wir verändern also gleichermaßen den Dialog und unseren Beratungsansatz.