Ein Gespräch über das Thema Barrierefreies Reisen als Qualitätsmerkmal und Serviceaufgabe für den Deutschlandtourismus, über einen Markt, der die Nische längst verlassen hat und die Präsentation der DZT und der Regionen diesbezüglich auf dem „2. World Summit on Accessible Tourism“ nächste Woche in Brüssel.
Frau Hedorfer, was ist für Sie barrierefreier Tourismus?
Barrierefreier Tourismus gehört für mich zu einer Reihe von Faktoren, die den Tourismus der Zukunft ganz stark prägen werden. Tourismus ist eine ausgesprochen dynamische Wachstumsbranche – kein Wirtschaftszweig sonst wächst so stark. Aus diesen Chancen folgt auch Verantwortung für die Umwelt, für die Reisenden, für die Menschen in den bereisten Ländern. Weil diese Verantwortung in unserem Selbstverständnis eine so hohe Bedeutung hat, haben wir vor einigen Jahren das Innovationsmanagement als Stabsstelle beim Vorstand der DZT installiert. Hier sind Themen der Social Responsibility gebündelt und werden zentral gesteuert.
Wie wichtig sind barrierefreie Angebote speziell im Deutschland-Tourismus?
Hier gibt es eine ganz klare Korrelation zwischen Angebot und Nachfrage. Menschen, die auf barrierefreie Angebote angewiesen sind, werden um Destinationen ohne derartige Angebote einen Bogen machen. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn wir glaubwürdige und praktikable barrierefreie Angebote haben und diese auch wirkungsvoll kommunizieren, generieren wir zusätzliche Nachfrage. Im internationalen Wettbewerb stärken barrierefreie Angebote die zukunftsorientierte Positionierung des Reiselandes Deutschland.
Reden wir über eine Nische oder einen Markt?
Barrierefreie Angebote haben längst die Nische verlassen. Laut Weltgesundheitsorganisation UNWTO sind heute bereits 15 Prozent der Weltbevölkerung von funktionalen Beeinträchtigungen betroffen. Mit zunehmendem Alter nimmt der Anteil deutlich zu: bei 75-jährigen Männern liegt er zwischen 40 und 50 Prozent, bei 75-jährigen Frauen zwischen 50 und 60 Prozent. Mit dem demografischen Wandel wird die Zahl der Menschen, die barrierefreie Angebote nachfragen, deutlich steigen. Ein weiterer Aspekt: Menschen mit Handicap oder ältere Menschen reisen nicht gern allein. Laut GfK sind Reisende mit speziellen Anforderungen an Barrierefreiheit in Europa mit durchschnittlich 1,9 Begleitpersonen unterwegs.
Woher kommt die Nachfrage – und von wem?
Das Profil der Menschen mit dauerhaften Beeinträchtigungen, die barrierefreie Angebote nachfragen, ist außerordentlich vielfältig. Auffällig auf den ersten Blick ist stufenlose Zugänglichkeit für Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind. Doch betreffen funktionale Beeinträchtigungen alle Sinne, gefragt sind auch Angebote für seh- oder hörgeschädigte Personen und Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die Informationen in leichter Sprache benötigen. Hinzu kommen zeitliche Beeinträchtigungen beispielsweise bei Schwangeren oder Familien mit kleinen Kindern. Last but not least ist Barrierefreiheit ein Servicemerkmal. Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie BMWi hat definiert, dass Barrierefreiheit für 15 Prozent der Reisenden unverzichtbar und für 30 bis 40 Prozent hilfreich ist. Für 100 Prozent bedeutet sie mehr Komfort.
Ich erlebe die DZT als Treiber, Reisen für Alle zu pushen. Weshalb legen Sie Tempo vor? Und wo steht Deutschland im internationalen Vergleich?
Wir pushen Accessibility aus verschiedenen Gründen. In allen Facetten ist Nachhaltigkeit ein Wettbewerbsfaktor für die Destinationen der Zukunft. Dafür müssen wir heute die Weichen stellen. Andere Länder, mit denen wir im Wettbewerb stehen, verstehen ja auch etwas vom Markt. Also müssen wir heute ein bisschen schneller sein, damit wir morgen die Nase vorn habe
Tatsächlich werden wir heute im internationalen Vergleich als Destination mit glaubwürdigen und vielfältigen barrierefreien Angeboten wahrgenommen. Dazu tragen wir auf unterschiedliche Weise bei. Wir bringen unsere Expertise in nationalen und internationalen Gremien ein, beispielsweise im BMWi-Projekt „Reisen für Alle“.
Die zweite Säule sind unsere eigenen Initiativen, u.a. der Tag des barrierefreien Tourismus im Rahmenprogramm der ITB Berlin oder Pre-Convention-Touren zum Germany Travel Mart für spezialisierte Reiseveranstalter und Journalisten.
Welche Rolle spielen Reisen für Alle in der DZT-Vermarktung national und international – heute und in zehn Jahren?
Unsere Marketing- und PR-Aktivitäten in den Märkten sind die dritte Säule. Ein aktuelles Beispiel: Vor wenigen Wochen kooperierten wir mit den Organisatoren der Rollstuhlbasketball WM 2018 erfolgreich bei der Vorbereitung der Weltmeisterschaft vom 16. bis 26. August in Hamburg. Kern der Kommunikations-kampagne der WM 2018 Rollstuhlbasketball gGmbH waren verschiedene Manga-Clips, die für die Teilnahme und den Besuch des Events warben. Dazu realisierte die DZT vor Beginn der Veranstaltung eine Social-Media-Kampagne in ausgewählten Märkten. Ein zusätzlicher Manga-Clip präsentierte die vielfältigen barrierefreien Reiseangebote in Deutschland. Das Video erzielte mehr als 400.000 Impressions auf Youtube und weitere 311.000 Impressions auf Facebook.
Das vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Projekt „Reisen für Alle – Deutschland barrierefrei erleben“ meldet ein Ergebnis, das als Meilenstein bezeichnet werden kann. Ein einheitlich geschaffenes Kennzeichnungs- und Zertifizierungssystem will Barrierefreiheit „geprüft, verlässlich und detailliert“ zu „einem zentralen Qualitäts- und Komfortmerkmal für den Tourismus in Deutschland zu machen“. Was bedeutet das? Wo sehen Sie Handlungsbedarf mit Blick auf die gesamte touristische Servicekette?
Es war außerordentlich wichtig, in die Vielzahl und Vielgestaltigkeit der Bemühungen um barrierefreie Angebote Transparenz und Sichtbarkeit zu bringen – in der Tat ein Meilenstein. Wenn wir aus der Sicht der Kunden denken, ist das unabdingbar.Die DZT hat sich intensiv engagiert, und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Das Kennzeichnungssystem gibt Reisenden zuverlässig Orientierung, und Leistungsträger in der gesamten touristischen Servicekette wissen, wo sie stehen und wo noch Handlungsbedarf besteht.
Derzeit wird die Datenbank programmiert. Voraussichtlich Ende des Jahres können wir die Datenbank „Reisen für Alle“ mit über das nationale Kennzeichnungssystem geprüften touristischen Einrichtungen und Regionen auf www.germany.travel integrieren.
Klar ist, dass sich Barrierefreiheit als „Qualitäts- und Komfortmerkmal“ nicht von oben verordnen lässt. Mit Freude stellen wir fest, dass sich immer mehr touristische Unternehmen selbst engagieren. Die Zertifizierung ist dabei außerordentlich hilfreich.
Als DZT engagieren Sie, besonders Innovationsmanager Olaf Schlieper, sich sehr, das Segment ins Bewusstsein der Branche zu heben und Deutschland als barrierefreies Reiseziel zu positionieren.
Auf der ITB Berlin hat die DZT ein Zeichen gesetzt und seit 2014 die Schirmherrschaft für den „Tag des Barrierefreien Tourismus“ übernommen. Was erleben Sie dort?
Den Tag des barrierefreien Tourismus gab es auf der ITB Berlin 2018 bereits zum 7. Mal. Zum fünften Mal in Folge hat die DZT die Organisation verantwortet. Wir veranstalten den intensiven Fachaustausch mit Blick über den Tellerrand in Kooperation mit Initiator „Tourismus für Alle Deutschland e.V.“ (NatKo) barrierefrei im City Cube Berlin. Unterstützt werden wir von der AG „Barrierefreie Reiseziele in Deutschland“, dem Länderarbeitskreis „Tourismus für Alle“ sowie der Messe Berlin. Es hat sich ein offener, lebendiger Branchentreff mit internationalem Netzwerk am ITB-Freitag etabliert. Hochkarätig besetzte Podien diskutieren Herausforderungen, teilen Erfahrung und best practice. Im Fachprogramm der größten Tourismusmesse der Welt ist internationale Strahlkraft gewährleistet.
Nächster großer Auftritt ist Anfang Oktober beim 2. World Summit on Accessible Tourism „Destinations for All“ in Brüssel. Wie tritt die DZT dort auf? Was ist das Ziel?
Unter dem Motto ‘The accessible tourism chain’ diskutieren Experten, Reiseveranstalter, Journalisten, Behindertenverbände und weitere Multiplikatoren aus 35 Ländern in Workshops Barrierefreiheit entlang der gesamten touristischen Wertschöpfungskette. Als Mitglied im Programmkomitee war die DZT an der Entwicklung des Workshop-Programms beteiligt. Zahlreiche nationale Akteure bereichern mit ihrer Expertise das Programm.
Die DZT war auch auf dem 1. Summit 2014 in Montreal als Partner beteiligt. Jetzt präsentieren wir als Gold-Partner gemeinsam mit unseren Partnern erfolgreiche Innovationen und Praxisbeispiele für barrierefreie Angebote und Services in Deutschland. Wir kommen als größter Aussteller. Über das Sponsorship ist das Reiseland Deutschland vor, während und nach dem World Summit „Destinations for All“ medial gut vertreten.
Unser Ziel ist, barrierefreie Angebote als wesentliche Facette im Markenkern des Reiselandes Deutschland zu präsentieren. Mit der Verankerung stärken wir die zukunftsorientierte Positionierung des Reiselandes Deutschland im internationalen Wettbewerb.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich in Bezug auf barrierefreies Reisen in Deutschland wünschen von Ländern, Regionen, Städten und Gemeinden, touristischen Leistungsträgern, Verkehrsträgern, Hotellerie, Verbänden und der Politik?
Mein grundsätzlicher Wunsch ist schon erfüllt. Mit all den genannten Entscheidungsträgern in DMOs, Unternehmen und Organisationen haben wir einen breiten Konsens erzielt: Barrierefreiheit ist kein Luxusproblem, sondern eine Serviceaufgabe. Im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit des Reiselandes Deutschland in der Zukunft müssen wir an einem Strang ziehen. Am Horizont steht die Vision, dass sich der Begriff „barrierefrei“ erübrigt und das gesamte Angebot im Reiseland Deutschland ohne Barrieren standardmäßig erlebbar wird.
Zum Abschluss Ihr persönlicher Ausblick in die Zukunft. Wie wird sich barrierefreier Tourismus entwickeln? Werden wir in 20 Jahren noch darüber sprechen?
Über das, was wir heute unter barrierefreiem Tourismus verstehen, von der stufenlosen Zugänglichkeit über Informationen in Blindenschrift, werden wir nicht mehr reden müssen. Dank Digitalisierung haben wir unendliche Möglichkeiten, Reiseerlebnisse für Menschen mit Handicaps zu erleichtern und neu zu gestalten. Wir werden über Sprachassistenten reden oder über künstliche Intelligenz. Diese Möglichkeiten werden Nachfrage wecken. Da müssen wir gemeinsam mit den DMOs und allen Leistungsträgern intelligente Lösungen entwickeln. Das bleibt spannend.