Ein Gespräch über die tourismus-soziologischen Folgen der Corona-Zeit, eine gesellschaftliche Neubewertung des Reisens und die Hoffnung, dass sich auch nach der Krise noch viele daran erinnern mögen, dass Pizzaboten einmal unsere Helden waren.
Frau Professor Heuwinkel: Was denken Sie, wie sich die Corona-Beschränkungen auf das soziale Zusammenleben und Verhalten der Bundesbürger ausgewirkt haben?
Hier ergibt sich ein stark differenziertes Bild, abhängig von den eigenen Erfahrungen in dieser Zeit. Es gibt jene, die persönliche oder finanzielle Verluste erlitten haben, die gesundheitlich zur Risikogruppe gehören oder in Sektoren wie der Medizin oder Pflege arbeiten, die das Virus und seine Folgen sehr unmittelbar miterleben. Dann haben wir wiederum Gruppen, die dieser Zeit auch Positives abgewinnen können, Menschen, die diese Entschleunigung als Vorteil wahrnehmen, die ihre Zeit Zuhause genießen und das Weniger an Konsum als Chance begreifen. Das ging einher mit Trends zur Selbstverwirklichung und einer gewissen Selbstoptimierung, etwa über den Gebrauch von Yoga- und Fitness-Apps. Es gibt sogar Menschen, die es spannend finden, jetzt mal selbst Teil einer Krise zu sein. Echte Krisen kannten die meisten davor ja nur aus den Nachrichten.
Von daher war es wirklich eine für unsere Gesellschaft komplett neue Situation.
Das stimmt. Es hat mich ehrlich gesagt überrascht, wie diszipliniert sich alle an die Beschränkungen, Verbote und diese soziale Kontrolle gehalten habe. Denn auch, wenn wir Deutsche Regeln und Verordnungen irgendwo lieben – ich hätte mit mehr Widerständen gerechnet. Beeindruckend, wie eifrig Toilettenpapier gekauft wurde und Masken genäht wurden. Inzwischen hat sich die Faszination des Neuen abgenutzt und leider kommt es zu kruden Verschwörungstheorien und Schlimmerem.
Das Thema Social Distancing und seine Umsetzung polarisieren. Haben Menschen aber tatsächlich so ein Problem damit, auf Abstand zu bleiben? Oder haben wir es uns – jeder in seiner Blase – nicht inzwischen ganz bequem gemacht?
Wir müssen Gemeinschaft tatsächlich erst wieder ein Stück weit lernen. Wir müssen wieder vertrauen, dass nichts passiert, wenn uns andere nah kommen. Soziologen wundern sich ja sowieso darüber, dass der moderne Mensch so nah nebeneinanderher leben kann, ohne sich zu bewaffnen. Dass wir zum Beispiel am Strand „wehrlos“ nebeneinander lien hat der Mensch zu anderen, zu Fremden, Abstand gehalten. Dieses Verhalten kann jeder noch an sich beobachten, wenn er nachts alleine durch eine Gasse läuft. Wenn Ihnen dann plötzlich jemand entgegenkommt, spielen im Kopf auf einmal ganz viele Dinge eine Rolle: Kommt da ein Mann oder eine Frau? Wie groß ist die Person, die da aus der Dunkelheit auf mich zukommt? Der Moment, wann man sich in dieser Situation wieder entspannt, hängt von vielen Faktoren ab. Nähe muss man also lernen und zulassen können. Gleiches gilt für die Bereitschaft, Rücksicht auf andere zu nehmen.
Welche Folgen könnten die gesellschaftlichen Einschränkungen und Reisebeschränkungen für die Tourismusbranche haben? Ändert sich vielleicht unser Reiseverhalten nachhaltig?
Wir wissen aus anderen Krisen, nehmen Sie 9/11 oder den Tsunami in Thailand 2004, dass Menschen sehr schnell vergessen. In Asien waren damals noch nicht alle Leichen geborgen, da lagen die ersten Urlauber schon wieder an den Stränden. Von daher denke ich, dass sehr schnell wieder gereist werden wird, auch international, sobald es wieder erlaubt ist – und sofern es die eigenen Finanzen zulassen. Auch Corona-Hotspots wie Bergamo oder New York werden nicht tabu sein. Die Frage ist eher: Was bleibt von der Tourismusbranche, vor allem von kleineren Anbietern, übrig? Außerdem besteht das touristische Erlebnis nicht nur aus Hotel und Transport, sondern gerade in den Städten aus Kneipen, Bars, Sport- und Kulturangeboten. Als Reisender will man heute ins Leben vor Ort auf Zeit eintauchen – wenn man nicht gerade einen reinen Strandurlaub machen möchte.
Reisen, im modernen gesellschaftlichen Kontext betrachtet, erfüllt vielerlei Aspekte. Aber kann Urlaub diese unter den vielen neuen Hygienebestimmungen überhaupt noch leisten? Oder anders gefragt: Wie steril darf Urlaub werden, damit wir noch spüren, dass wir unterwegs sind?
Das hängt davon ab, wie und mit wem ich verreise. Wenn ich im Kreis der Familie oder enger Freunde verreise, lässt sich Vieles von dem, was nun gefordert ist, annehmen. Bedeutet Urlaub für mich aber primär, dass ich neue Menschen kennenlerne, dann wird es schwierig. Im Restaurant stehen die Tische so weit auseinander, dass Interaktion mit den Sitznachbarn unmöglich wird. Man sieht nicht einmal, ob einen der Kellner hinter seiner Maske anlächelt oder nicht. Das soziale Miteinander ist also künstlich unterbrochen. Andere zu beobachten, das gehört zum Reisen aber auch dazu.
Also wird es mit echtem Urlaub für viele schwierig.
Reisen ist einerseits körperliche und seelische Erholung. Aber in unserer Gesellschaft ist es auch Statussymbol. Weiterhin können wir in Deutschland von einer Habitualisierung des Reisens sprechen: Kinder werden in dem Wissen groß, dass es im Sommer oder sogar mehrmals im Jahr in die Ferien geht. Die Frage „Vereisen Ja oder Nein?“ wird also oft gar nicht mehr gestellt. Es geht heute um das Wohin und Wie? Um das Wer-bin- ich? Spüre ich mich überhaupt noch? Reisen ist in diesem Kontext eine Bestätigung des eigenen Seins. Das lässt sich übrigens gut an den vielen extrem an- und aufregenden Angeboten und Aktivitäten im Ferienmodus ablesen. Im Urlaub springe ich an einem Bungeeseil von einer Staumauer oder lasse mich im Käfig zu den Haien ins Wasser hinab. Trotzdem ist Reisen viel mehr als von irgendetwas
fort- oder hinzureisen, wie man das früher in der Motivationstheorie mit Pull- und Push-Faktoren versucht hat zu erklären. Reisen ist auch – oft viel zu unreflektierter – Konsum.
Ist Reisen in unserer Gesellschaft ein Synonym für Freiheit – und kommt diese Verknüpfung durch die Corona-Zeit ins Wanken?
Dass Reisen und Freiheit eng mit miteinander korrelieren: ja. Dass dieses Gefühl bedroht wäre aufgrund der vergangenen Monate: nein. Wenn wir ehrlich sind, haben wir doch nicht mal gemerkt, dass uns etwas weggenommen wurde. Einige haben zu Ostern ihren Skiurlaub absagen müssen, okay. Aber schon jetzt im Sommer ist doch wieder Vieles möglich. Um ein Gefühl zu erzeugen, dass uns die Freiheit genommen wird, bräuchte es mehr als eine Reisewarnung von drei Monaten.
Welche gesellschaftlichen Gruppen wurden in den vergangenen Monaten am härtesten getroffen, und wie lange
wird es dauern, bis wir uns da auch seelisch wieder herausgekämpft haben?
Besonders schwierig war es für Menschen, die zum Beispiel in Alten- und Pflegeheimen isoliert und quasi entmündigt wurden. Und für Kinder. Ihnen ist ihr ganzes soziales Umfeld außerhalb der Familie weggebrochen: keine Schule mehr, keine Besuche bei Freunden, keine Spielplätze. Nicht mal draußen auf der Straße durften sie zusammen herumtollen. Hier wird es in den kommenden Monaten viel aufzuarbeiten geben – bis hin zu gesteigertem häuslichem Missbrauch. Für viele Erwachsene ging es dagegen im Betrieb oder im Home-Office mit Videokonferenzen irgendwie weiter.
Viele sehnen sich jetzt mehr denn je nach einer Auszeit. Was unterscheidet hier vielleicht männliche von weiblichen Bedürfnissen? Auch vor dem Hintergrund, dass besonders Frauen in der Corona-Krise viele Abstriche machen mussten.
Dass es hier jetzt krisenbedingt geschlechtsspezifische Präferenzen gibt, sehe ich so nicht. Das hängt von der Lebenssituation ab. Alle, die sich zuhause um Kinder oder Angehörige kümmern, sind doppelt belastest. Und ja, tendenziell sind das vor allem die
Frauen. Viele haben gefragt oder ungefragt zurückgesteckt. Oft, weil sie häufiger als Männer in Teilzeit und befristeten Arbeitsverhältnissen arbeiten und somit mehr von Kürzungen betroffen sind. Sie sind aber genau diejenigen, die anstehende Reiseentscheidungen treffen werden.
Was meinen Sie: Wird der Tourismus bei den Deutschen bald wieder denselben Stellenwert wie vor der Krise haben, oder haben die Menschen gelernt zu schätzen was sie vor der Türe haben?
Ich würde sagen, beides. Einerseits haben wir das Regionale neu entdeckt und schätzen gelernt. Aber das steht nicht im Widerspruch zu dem Wunsch, auch wieder zu verreisen. Italien oder Griechenland fühlen sich anders an als Deutschland. Was ich mir wünschen würde, ist, dass wir durch diese Krise die Wertigkeit von Reisen und Begegnungen wieder zu schätzen wissen. Dass das reine Konsumieren von touristischen Leistungen neu bewertet wird und man erkennt, dass man eben nicht alles darf, nur weil man dafür bezahlt hat. Es ist nämlich, und das hat uns die Corona-Zeit wirklich vor Augen geführt, etwas Besonderes, von anderen Menschen bedient zu werden. Ich hoffe, dass sich viele
auch noch lange nach dieser Krise daran zurückerinnern werden, dass Pizzaboten einmal unsere Helden waren.
Zur Person: Prof. Dr. Kerstin Heuwinkel ist Professorin für Internationales Tourismus-Management, Tourismussoziologie sowie Kultur- und Sporttourismus an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, htw saar. Ausgangspunkt für ihre Arbeiten ist die Kombination aus Soziologie und Informationswissenschaft. Sie ist Autorin zahlreicher akademischer Publikationen, u.a. das 2019 mit dem ITB BookAward ausgezeichnete Buch zur Tourismussoziologie.