Stephan Semmelmayr, Geschäftsführer Chiemgau Tourismus e.V.

Ein Gespräch über barrierefreien Urlaub im Chiemgau, sieben neue Handbike-Routen und auf welche Details es bei der Planung solcher Angebote ankommt, um sie effizient umzusetzen.

Barrierefreier Tourismus ist seit Jahren deutschlandweit ein großes Thema. Was gab für Chiemgau Tourismus den Ausschlag, mit den neuen Handbike-Routen ein eigenes Produkt für Menschen mit Behinderung zu kreieren?

Unser Anspruch ist es, eine Region für alle Gäste zu sein – also auch für Menschen mit Behinderung. Bei dieser Zielgruppe ist aber Umsicht geboten, denn wenn das Angebot an irgendeiner Stelle nicht bis ins Detail durchdacht ist, trübt sich das Urlaubserlebnis. Im schlimmsten Fall verärgert man diese Menschen – und das wollen wir überhaupt nicht. Deshalb wollten wir Nägel mit Köpfen machen. Die neu ausgewiesenen Touren sind aber nicht nur Handbikern vorbehalten, sondern werden beispielsweise auch von Eltern, die mit Fahrradanhänger unterwegs sind, oder älteren Menschen genutzt. Mit den Handbike-Routen als Leuchtturmprojekt geben wir einen Startschuss für die Region und freuen uns über alle, die sich davon anregen lassen und Angebote für diese Zielgruppe schaffen.

Bekamen Sie denn entsprechende Anfragen?

Es wurde von Gästen mehrfach der Wunsch an uns herangetragen, in diese Richtung aktiv zu werden. Ein sportlicher Bekannter fragte auch an, weil er mit seinem Handbike die Natur im Chiemgau genießen wollte. Wir haben dann überlegt und befunden, dass Handbike-Touren gut zu uns passen würden und sind 2018 ans Werk gegangen. Jetzt können wir das Ergebnis in Form von sieben ausgearbeiteten Handbike-Touren präsentieren.

Der Chiemgau ist seit 2015 vom ADFC als RadReiseRegion zertifiziert und ausgezeichnet, der Standard für Radtouristen ist also per se schon hoch. Was unterscheidet eine Handbike-Route von einer normalen Route?

Ganz viele Details. Eine Schwelle auf der Fahrbahn, eine Steigung mit Kies, eine Abfahrt mit lehmigem Boden, fehlende barrierefreie Toiletten oder Einkehrmöglichkeiten – all das ist für Handbiker ein rotes Tuch. Das muss also passen. Die neuen Handbike-Routen wurden ausgiebig von Handbikern getestet und für gut befunden.  Durch die detaillierten Tourenbeschreibungen findet jeder Handbiker die passende Tour für sich. Man kann sagen, wir haben den Auftrag als ADFC-RadReiseRegion ernst genommen und auch für Menschen etwas entwickelt, die besondere Bedürfnisse haben.

Wie sind Sie bei der Ausgestaltung der Strecken vorgegangen?

Aus unserem 1400-Kilometer-Radwege-Netz haben wir geeignete Strecken herausgesucht, um möglichst wenige bauliche Maßnahmen vornehmen zu müssen. Das geschah in jahrelanger akribischer Arbeit, bei der uns viele Betroffene und Experten unterstützt haben. Engagierte Handbikerinnen und Handbikern haben alle Touren mehrfach getestet und immer wieder an vielen Stellen gefeilt. Man kann die Touren erst dann empfehlen, wenn auch die Infrastruktur stimmt. Sprich: Es muss barrierefreie Toiletten und Einkehrmöglichkeiten geben.

Handbike-Routen gut und schön, aber was bieten Sie im Chiemgau sonst noch in Sachen Barrierefreiheit an?

Wir sind, was Ausflugsziele und touristische Einrichtungen angeht, relativ durchschnittlich und keine besonders barrierefreie Region. Aber beispielsweise die Hochfelln-Seilbahn kann Rollstuhlfahrer auf den Berg bringen, ebenso wie die Wendelsteinbahn. In Chieming am Chiemsee gibt es eine Rampe am Strandbad, sodass man mit einem speziellen Baderollstuhl ins Wasser kann. Die Chiemsee-Schifffahrt und Schloss Herrenchiemsee sind barrierefrei. Und es wird immer mehr. Alles, was fortan renoviert oder neu gebaut wird, berücksichtigt eine barrierearme Gestaltung.

Was ist mit Geschäften, Bahnhöfen, ÖPNV? Tut sich da auch etwas in Sachen Barrierefreiheit?

Da gibt es natürlich noch Baustellen. Aber das ist nicht unsere Aufgabe. Wir haben das auf den Weg gebracht, was in unserem Zuständigkeitsbereich liegt und was wir können – nämlich touristische Produkte entwickeln. Damit hoffen wir, weitere Entwicklungen in der Region anzustoßen, damit es irgendwann keine unüberwindbaren Schwellen mehr gibt.

Welche Zielgruppe haben Sie mit dem barrierearmen Angebot im Chiemgau eigentlich vor Augen?

Es gibt viele sportlich ambitionierte Handbiker, und wir freuen uns darauf, diesen Menschen zukünftig im Chiemgau etwas anbieten zu können, das ganz auf sie zugeschnitten ist. Hier ist aber auch ein bisschen Bescheidenheit angesagt – perfekt sind wir noch lange nicht. Aber wir sind daran interessiert, immer noch besser zu werden.

Was hat die Planung und Realisierung gekostet und wer trägt die Kosten? 

Die Kosten tragen wir, der Landkreis hat sich aber beteiligt. Durch unseren ohnehin hohen Standard bei der Infrastruktur halten sich die Kosten allerdings in Grenzen. So können wir mehr Geld ins Marketing stecken, um darauf in Special-Interest-Magazinen oder über Social Media hinzuweisen. Im Endeffekt reden wir hier über einen kleinen fünfstelligen Betrag.

Wann hat sich das Investment gelohnt?

Im Tourismus ist so etwas oft schwer zu messen. Über unsere Evaluierungsmaßnahmen wissen wir, was unseren Gästen gefällt. Da werden auch Menschen mit Handicap gefragt. Wenn mehrfach die Antwort kommt, dass die Leute gerne hier waren, weil wir so geniale Handbike-Routen haben, dann haben wir alles richtig gemacht. Sollten unsere Hoteliers jedes Jahr eine Gruppe Handbiker haben, die wegen unserer Touren kommen, dann kann das nicht so verkehrt gewesen sein.


Das Interview führte Sven Scheider in KW21/2022