Ein Gespräch über die Veränderung des Begriffs Wandern in der Gesellschaft, Deutschland als Wanderland und den Fluch und Segen der Digitalisierung für die Wegepflege.
Frau Dicks, noch vor 20 Jahren hätte man „Wandern“ in Städten oder im Flachland als Spazierengehen bezeichnet. Der Begriff verändert sich also. Ist das sinnvoll?
Ja, auf jeden Fall. 54 Millionen Bundesbürger geben von sich selbst an, dass sie wandern. Wenn sie alle nur auf unseren Bergen unterwegs wären – das wäre für die dortige Natur und Tierwelt nicht tragbar und gäbe auch kein realistisches Bild von Wanderern wieder. Eine Öffnung der Definition ist deswegen gut und sinnvoll.
Wie lautet diese Definition?
Wandern ist „Gehen in der Landschaft“ und eine Freizeitaktivität mit unterschiedlich starker körperlicher Anforderung, die sowohl das mentale wie physische Wohlbefinden fördert. Charakteristisch für eine Wanderung sind Touren mit einer Dauer von mehr als einer Stunde, eine entsprechende Planung und eine angepasste Ausrüstung. Das sind nur einige von vielen Ergebnissen der „Grundlagenuntersuchung Freizeit- und Urlaubsmarkt Wandern“, die wir zusammen mit dem ETI für das Bundeswirtschaftsministerium im Jahr 2010 herausgefunden haben. Manches Ergebnis in dieser Studie hat uns selbst überrascht. Zuvor hatten wir Wandern noch als Touren von mindestens drei bis vier Stunden definiert. Die Menschen in der repräsentativen Befragung sahen das offenbar anderes.
Können sich ältere Menschen vielleicht einfach nicht eingestehen, dass Sie nicht mehr wandern, sondern spazieren?
Nein, es gab vorher einfach keine repräsentative Untersuchung zum Begriff Wandern. Mit dem demografischen Wandel hat das nichts zu tun. Wir wissen, dass das Wandern zwischen Rügen und Oberstdorf, zwischen dem Erzgebirge und dem Niederrhein unabhängig vom Alter ganz unterschiedlich genannt und betrieben wird. Manche sagen auch Trekking, Geocaching oder schlicht Laufen, wenn sie Wandern meinen.
Ihr Verband geht diesen Trend mit, hat erstmals das Prädikat Qualitätsweg „Wanderbares Deutschland – komfortwandern“ vergeben. Der kürzeste Weg misst gerade mal zwei Kilometer. Bitte erzählen Sie uns mehr über dieses neue Zertifikat.
Im Schnitt sind Wandertouren neun bis zwölf Kilometer lang. Das schaffen gerade ältere oder Menschen mit Beeinträchtigung oft nicht mehr. Besonders für sie haben wir eine Wegezertifizierung geschaffen, die eine weitgehende Barrierefreiheit voraussetzt. Dennoch müssen auch diese Wege abwechslungsreich sein und Spaß machen. Die Zertifizierung der Qualitätswege „komfortwandern“ ist somit auch ein Angebot für den demographischen Wandel. Der erste von uns zertifizierte Weg dieser Art ist der „Literaturweg Franken“ im Fränkischen Seenland. Mit den Zertifizierungen kurzer, thematischer Wege bedienen wir übrigens auch andere Zielgruppen.
Welche?
Neben familienfreundlichen Qualitätswegen als „familienspaß“ zertifiziert der DWV Strecken und Erlebnisse als Qualitätswege „stadtwanderung“, „kulturerlebnis“, „naturvergnügen“, „kulinarisch reizvoll“ oder als „traumtouren“, die von allem etwas bieten. Das Thema Wandern differenziert sich heute vielmehr aus, als noch vor zehn Jahren. Als Verband reagieren wir darauf, ebenso wie viele Marketingorganisationen, die ihre Gäste inzwischen sehr stark zielgruppenspezifisch ansprechen. Da arbeiten wir eng mit den Destinationen zusammen. Ab dem nächsten Jahr zertifizieren wir deswegen auch Wege unter der Bezeichnung „Winterglück“, denn auch das Wandern im Winter hat einen ganz besonderen Reiz und kann ein Angebot in Zeiten des Klimawandels sein.
Wie viele Wege hat der Deutsche Wanderverband bis jetzt insgesamt zertifiziert?
Es gibt 160 „Qualitätswege Wanderbares Deutschland“ mit einer Gesamtlänge von genau 13.868 Kilometern.
Wie wichtig sind Zertifizierungen für Regionen, um touristisch erfolgreich zu sein?
Die Zertifikate sind wichtig als Marketing-Leuchttürme. Eine Region kann darüber ein Qualitäts-Image transportieren. Dazu kommt, dass Zertifikate für Nachhaltigkeit in der Sache stehen. Wenn eine Region etwa mit einem Qualitätsweg für sich werben will, muss sie sich kontinuierlich um dieses Angebot kümmern, sonst verliert sie das Siegel wieder.
Deutschland präsentiert sich gerne als Wanderland. Aber wie gut ist die Infrastruktur in den Regionen wirklich?
Zunächst einmal gibt es bundesweit und flächendeckend eine entsprechende Infrastruktur. Von Nord nach Süd pflegen die Ehrenamtlichen in den in unserem Verband organisierten Vereinen gut 200.000 Kilometer Wege. Dort, wo das Thema Wandern im Marketing für die Region eine Rolle spielt, ist man bemüht, die Qualität der Wege noch ein bisschen höher zu halten. Das bedeutet viel Arbeit, lohnt sich aber, weil es Wandergäste in die entsprechenden Regionen zieht und das dauerhaft. In Gegenden, in denen das Thema nur über den Zeitraum einer Fördermittelperiode in den Fokus rückt, es dann keine verantwortlichen Strukturen gibt, sinkt die Qualität dagegen auch schnell wieder ab. Die Nachhaltigkeit ist daher von hoher Bedeutung.
Welche Regionen würden Sie als derzeit wegweisend in der Entwicklung neuer Wanderprodukte bezeichnen – und warum?
Sicherlich allen voran die „Qualitätsregionen Wanderbares Deutschland“, die sich dem Thema Wandern wirklich verschrieben haben. Das sind die Sauerland Wanderdörfer, der Frankenwald, das ZweiTälerLand im Schwarzwald und das Räuberland im Spessart. Dort geht es nicht nur um gute Wege, auch das Drumherum muss stimmen: Gastgeber, Hütten, Geschäfte, Arrangements, die Tourist-Infos, die nachhaltige Wegepflege und die örtlichen Medien – alles spielt zusammen. Selbst der ÖPNV hat sich in „Qualitätsregionen Wanderbares Deutschland“ auf Wanderer eingestellt. Auch unabhängig von den Qualitätsregionen entwickelt sich gerade viel: Zum Beispiel die Nordpfade in Niedersachen, die Touren für spezielle Zielgruppen anbieten oder auch die Uckermark und auf Rügen. Das zeigt wie viel Spaß das Wandern im Flachland machen kann. Auch das Küstenwandern boomt gerade. Zu Recht.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung beim Thema Wandern? Wie weit sollte eine Destination hier mitgehen?
Die Digitalisierung ist extrem wichtig, um die nachhaltige Wegepflege aufrechtzuerhalten. Die Zeiten, in denen Karten alleine vom Landesvermessungsamt und den Wandervereinen gepflegt wurden, sind größtenteils vorbei. Ein gutes Wegenetz muss heute stets aktuell und über Apps, Plattformen und im Netz sichtbar sein. Die Digitalisierung der Wege ist dafür Grundvoraussetzung. Der Fluch an der Sache ist, dass auf einigen Plattformen jeder seine Touren einstellen kann. Das widerspricht in Teilen dem Naturschutzgedanken, weil sich plötzlich Routen großer Beliebtheit erfreuen, die vielleicht sensible Gebiete durchlaufen. Auch privates Grund- und Waldeigentum wird dabei oft ignoriert. Das passiert aus Unwissenheit. Ein professionell ausgezeichneter Wanderpfad entspricht immer dem Naturschutz und natürlich werden bei dessen Planung die Grundeigentümer einbezogen. Unser Verband hat für derartige Planungen eine Online-Software, den NatursportPlaner, entwickelt, der die dafür notwendige Kommunikation wesentlich erleichtert. Da spielen dann auch die Belange anderer Natursportarten wie Mountainbiken oder Reiten mit rein.
Abschlussfrage zum gerade laufenden Deutschen Wandertag: Wie viele Teilnehmer erwarten Sie und was sind die Themen?
Der Rahmen des 500. Reformationsjubiläums ist schon mal etwas Besonderes. Die beiden UNESCO-Welterben Wartburg und der Nationalpark Hainich sind dort ein einmaliger Rahmen für den Wandertourismus. Wir erwarten rund 12.000 bis 15.000 Gäste am Wandertagssonntag, dazu kommen sicherlich viele, die in der Region gerade ihren Urlaub verbringen. Es ist für uns ein wichtiger Deutscher Wandertag, da wir hier als Dach- und Fachverband für das Wandern auch verbandspolitisch für die 19. Legislaturperiode unsere Erwartungen an die Bundesparteien diskutieren und abstimmen werden.